erscheinen in: NZZ vom 29.12.2010 Meinungen und Debatte

Morbus Imboden

Nichts ist schwerer zu ertragen

als eine Reihe von glücklichen Tagen

 

1964 hat Max Imboden das „Helvetische Malaise“ zum ersten Mal beschrieben. Seither tritt es schubweise auf, aber kaum je so heftig wie in den letzten zwei Jahren. Die Symptome sind: depressive Verstimmungen, Kraftlosigkeit, Überdruss und nicht näher lokalisierbare Schmerzen in den Organen des politischen Systems. Im Übrigen sind die Eidgenossen jedoch gesund, munter und kauffreudig. Man ist gut durch die Krise gekommen, die Wirtschaft wächst trotz des starken Frankens, die Arbeitslosigkeit ist konkurrenzlos niedrig und der Zustrom qualifizierter Arbeitskräfte hält an. Und auch die Aussichten sind günstig, denn die internationalen Vergleiche geben unserem Land gute bis sehr gute Noten für die Wettbewerbsfähigkeit, die Staatsverschuldung, die Lebensqualität und selbst für die Schülerleistungen.

 

Es besteht also ein frappanter Gegensatz zwischen dem Zustand der Schweiz im Allgemeinen und der Befindlichkeit ihres politischen Systems. Für liberal denkende Menschen ist das zunächst eine gute Nachricht: Offenbar hängt das Wohlergehen des Landes weniger von der Politik ab, als diese sich gelegentlich einbildet. In der Schweiz ist die sogenannte Zivilgesellschaft also nach wie vor in der Lage, viele Probleme auch ohne staatliche Hilfe zu lösen. Doch auch der Liberale weiss, dass die moderne Gesellschaft auf die Bereitstellung öffentlicher Güter von hoher Qualität durch den Staat angewiesen ist. Dazu gehören Ordnung und Sicherheit, allgemeinverbindliche Normen, Justiz, eine stabile Währung, einige Infrastrukturen und ein gewisses Mass an sozialer Sicherheit. Daran aber gebricht es der Schweiz gerade nicht, sie erfreut sich im Allgemeinen einer guten und effizienten Verwaltung, leistungsfähiger öffentliche Betriebe und verlässlicher Staatsdiener. Das Malaise hat also offenbar noch nicht den Staat als Ganzen erfasst.

 

Erkrankt ist vielmehr die dem Publikum zugewandte Fassade des politischen Systems, die Vorderbühne gleichsam: die Parteien mit ihrem Gezänk, das Parlament mit seinen Leerläufen und die Regierung, die augenscheinlich kaum mehr regiert. Hier passieren die vielen Skandälchen, die von den Medien zu Skandalen aufgeblasen werden, hier gibt es manche Pannen, welche als Krisen an die öffentlichen Wände projiziert werden, hier wird auf den Mann und die Frau gespielt, Misstrauen gesät und fruchtbringend geerntet. Solches gehört zu jedem politischen System wie das Klappern zum Handwerk. Aber abgesehen davon funktionieren die lebenswichtigen Organe auch des sichtbaren Politbetriebs in der Schweiz noch hinreichend gut. Parlaments- und Regierungskrisen, wie sie in andern Ländern an der Tagesordnung sind, kennt unser Land nicht.

Damit bleibt aber die Frage: Woher das Malaise? Könnte sich nicht auch die Politik der guten Verfassung dieses Landes einfach erfreuen und entspannt und ruhig die anstehenden Aufgaben lösen? Das gibt es durchaus: Die Schweiz hat eine grosse Reform des Finanzausgleichs und der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen in einer Weise durchgezogen, welche in andern Bundesstaaten Neid erweckt. Die Totalrevision der Verfassung hat zwar nicht zu Begeisterungsstürmen geführt, aber die Toilettage war gründlich und hat das Grundgesetz wieder verständlich und ansehnlich gemacht. Unser Land hat sich eine wirksame Schuldenbremse gegeben, vor der andere Staaten nur träumen. Die meisten Gesetzestexte sind immer noch in einer bürgerfreundlichen Sprache abgefasst – ein nicht zu unterschätzender Indikator für die Gesundheit des Systems.

 

Aber dann gibt es eben die andere Seite: Das fruchtlose Gezerre in der Gesundheitspolitik! Viel Lärm um fast ganz nichts bei der Sicherheitspolitik! Ein verwirrendes Hin und Her bei der AHV-Revision. Ein unwürdiges Taktieren um den Staatsvertrag mit den USA wegen Steuerdelikten. Lächerliche Scharmützel um Kampfhunde, Milchkontingente und Buchpreisbindung! Braucht es die Enkelbetreuungsprüfung? Können Sprayereien UNESCO-Weltkulturerbe sein? Gibt es mehr Fehlgeburten in der Nähe von Atomkraftwerken? Solche und ähnliche Themen werden von den Medien teils lustvoll aufgegriffen, teils erzeugen sie beim verwöhnten Publikum aber nur Langeweile und Politikverdrossenheit. Wird hier nicht in fahrlässiger Weise viel politische Energie auf unwichtige Gegenstände verwendet, die dann bei den wichtigen fehlt? Ist auch dies einfach als Begleiterscheinung parlamentarischer Geschäftigkeit und massenmedialer Öffentlichkeit hinzunehmen? Es scheint jedenfalls, als ob das Malaise sehr viel mit diesen Aspekten des Politbetriebs zu tun habe.

 

Damit kommen wir der Sache schon näher: Jedes Organ, welches zu wenig oder in nicht sachgerechter Weise genutzt wird, erkrankt. Das politische System der Schweiz ist, wie jedes, auf die Bewältigung grosser Herausforderungen hin ausgelegt. Doch die fehlen weitgehend. Es fehlen aber auch die grossen, grundsätzlichen Kontroversen, welche der Politik zu wirklicher Dramatik verhelfen. Da nun aber jede Bühnenshow von Dramatik lebt, werden eben oft Seifenopern, Dramolette und Kasperletheater aufgeführt. Dass gute Schauspieler – sprich fähige politische Köpfe – solchen Bühnen fern bleiben und wir mit der zweiten und dritten Garnitur Vorlieb nehmen müssen, macht die Sache auch nicht besser. Wenn diese Diagnose nicht ganz falsch ist, dann werden die vielen vorgeschlagenen institutionellen Reformen keine Besserung bringen. Dann hilft nur eines: Abwarten, Tee trinken und auf schlechtere Zeiten warten!