Artikel im Nachgang zu einer Diskussion vom 9. November 2011 in Warschau anlässlich der Konferenz „Federalism – a way for Europe“ am Collège d’Europe in Natolin/Warschau

Die EU – ein „Unidentified Political Object“

 

Es ist kein Kinderspiel, die Europäische Union zu verstehen, und zwar gleich aus mehreren Gründen: Dieses politische System hoch komplex, in stetigem Wandel begriffen und ungewohnt, ja einmalig. Es ist ein „Unitentified Political Object“, ein UPO! Zwar hat es zu keiner Zeit an Anstrengungen gefehlt zu ergründen, was die EWG, die EG oder die EU im Innersten zusammenhält – im Gegenteil: Von Anfang an, seit den fünfziger Jahren, wurde dieses Objekt von einem gewaltigen Tross von Zeitgeistdeutern, Medienschaffenden, Think Tankers und Wissenschaftlern verfolgt, um ihm seine Geheimnisse zu entlocken. An den Universitäten taten sich insbesondere Juristen, Politologinnen, Historiker und Ökonominnen hervor. Ihre Schriften füllen ganze Bibliotheken und modernere Grossspeicher. Trotzdem stehen wir heute, da die EU in eine tiefe Krise geschliddert ist, vor einem Buch mit sieben Siegeln: Wie stabil und robust ist dieses System? Kann es sich weiterentwickeln und wenn ja in welche Richtung? Gibt es Rückfallpositionen? Und was wird aus Europa, wenn die EU versagt?

 

Wissenschaftliche Versuche, die EU zu begreifen

Verschiedene Wissenschaften schenkten und schenken also der Europäischen Integration grosse Aufmerksamkeit, und sie haben weder empirische Forschung noch theoretische Klimmzüge gescheut, um deren Dynamik zu verstehen. Die Historiker haben jeden Schritt dieses Prozesses intensiv ausgeleuchtet und dargestellt, und es gibt hier wohl kaum noch unbekannte Schätze zu heben. Dabei ist ein vielfältiges Material zusammengekommen, aus dem die andern Disziplinen jeweils das ihnen Passende auswählen. Doch ein tieferes Verständnis ist daraus nicht abzuleiten. Versuche, die EU mit andern historischen Staatenzusammenschlüssen zu vergleichen, bleiben kraftlos, denn die Umstände des 21. lassen sich nicht mit denen des 19. oder früherer Jahrhunderte vergleichen. Man bezeichnet gelegentlich die EU als „Neues Reich“, bemüht Karl den Grossen, konsultiert die Eidgenössische Geschichte. Doch meist kommt man dabei nicht über small talk hinaus.

Sehr intensiv haben sich die Vertreter der Disziplin „International Relations“ der In-tegration angenommen. Hier gab es einen Streit verschiedener Schulen: Realisten, Funk-tionalisten, Föderalisten und andere mehr. Die Funktionalisten hatten in den fünfziger und sechziger Jahren die Hoffnung gehabt, eine allgemeine Theorie der modernen Staatenin-tegration entwickeln zu können. Der Europäische Zusammenschluss wäre dann ein An-wendungsfall gewesen. Sie hofften dabei auf eine Art Entpolitisierung und eine Dominanz sachlich-pragmatischer Lösungen durch Fachleute. Doch die meisten regionalen Integra-tionsprojekte blieben – mit Ausnahme der EWG – in einer Frühphase stecken. Die Realisten untersuchen die Beziehungen zwischen Staaten als reinen Machtpoker. Danach dürfte es jedoch eine so weitgehende freiwillige Abtretung von Souveränität wie in der EU aber gar nicht geben. Die Föderalisten setzten darauf, dass sich die EU schrittweise einem Bundesstaat annähern würde. Doch nach Maastricht sind auch diese Träume vorerst geplatzt. Offenbar lässt sich die europäische Integration nicht in eine allgemeine Theorie der Kooperation zwischen Staaten einreihen.

Politologen sind die Spezialisten des Staates, es sind Staatswissenschaftler. Es ist deswegen verständlich, dass sie die EU in der einen oder andern Weise als staatsähnli-ches Gebildet zu begreifen versuchen. Dabei operieren sie meist mit den bekannten Ka-tegorien von Staatenbund und Bundesstaat. Das Problem ist nur, dass sich die EU dieser Einteilung entzieht: Es gibt keine andern Staatenbünde, welche je einen solchen Grad der Zusammenlegung von Kompetenzen und der gemeinsamen Politiken erreicht haben wie die EU – es sei denn, sie hätten sich in Bundesstaaten verwandelt. Doch dazu fehlen der EU so wesentliche Befugnisse, dass von einem Staat keinesfalls die Rede sein kann (etwa die Kompetenz-Kompetenz, das Monopol der legitimen Gewalt, die Aussen- und Ver-teidigungspolitik, das Besteuerungsrecht etc.). Einige Politologen weichen dann dieser Dichotomie aus und sprechen von „föderalen Mehrebenensystemen“. Doch das ist eine Catch-All-Kategorie, unter welcher sich alles Mögliche fassen lässt: Von Spanien und Ita-lien über die Schweiz und Österreich bis zur Afrikanischen und der Europäischen Union. Solche verbalen Kunstbegriffe – beliebt sind auch die „transnationale Demokratie“ und die „postnationale Konstellation“ – haben kaum analytische Kraft, denn sie gaukeln ein Ver-ständnis vor, welches keinem Realitätstest standhält. Dass die Globalisierung dazu führt, die Staaten immer dichter in überstaatliche Regelnetzwerke einzuspinnen, ist zwar eine Tatsache, doch die Staaten bleiben bisher bei weitem die politischen Hauptakteure dieses Geschehens.

Etwas handfester mögen es die Juristen. Für sie ist die Europäische Gemeinschaft zuerst einmal eine „Gemeinschaft des Rechts“, und das ist sie ja auch ohne Zweifel. Das umfangreiche von ihr geschaffen Gemeinschaftsrecht unterscheidet sich zwar sowohl von klassisch innerstaatlichem als auch von Völkerrecht, doch es lässt sich juristisch-institutionell recht gut fassen und handhaben. Man kann die EU eine supranationale Rechtsgemeinschaft nennen, und das bedeutet dann etwa folgendes: Erstens gibt es In-stitutionen der Rechtssetzung, -interpretation und -durchsetzung, welche von den Mit-gliedstaaten relativ unabhängig sind. Zweitens verfügt dieses System über substantielle Gesetzgebungskompetenzen, welche meist mittels Mehrheitsentscheiden wahrgenommen werden. Drittens geht dieses Recht dem nationalen vor. Viertens wendet es sich nicht nur an die Mitgliedstaaten, sondern auch an Einzelne (Unternehmen und Bürger). Und Fünftens gibt es Sanktionen gegen Staaten, die das Recht nicht befolgten. Das alles ist in der EU der Fall, und das so entstandene (Gemeinschafts-) Rechtssystem hält in Bezug auf Kohärenz, Geschlossenheit und Anwendungssicherheit dem Vergleich mit staatlichem Recht durchaus stand. Innerhalb dieses Systems – wir sprechen hier vor allem vom „Gemeinschaftspfeiler“ – wirkt also die ordnende, zivilisierende und pazifizierende Kraft des Rechts, doch über die politischen Existenz- und Entwicklungsbedingungen des Verbandes kann die Rechtswissenschaft kaum etwas aussagen.

Und die Ökonomen? Sie begrüssen jede Marktöffnung und jeden Abbau von Hinder-nissen gegen den ökonomischen Austausch, denn dadurch nimmt nach ihrer Auffassung die Effizienz des Gesamtsystems zu. Sie betrachten dagegen mit Sorgenfalten, dass „Brüssel“ zu Überregulierung neigt und Konkurrenz zwischen den Staaten einzudämmen versucht. Sie befürchten ein „Exekutivkartell“ der Regierungen und Verwaltungen, wel-ches die Wirtschaft einschnürt. Die meisten Geld- und Währungsspezialisten waren 1992 der Ansicht, die Bedingungen für eine Währungsunion seien (noch) nicht erfüllt, und haben davon abgeraten. Da haben sie leider Recht behalten. Aber mit diesen Erkenntnissen dringt man auch nicht sehr tief in das politische System der EU ein, denn Politik gehorcht andern Kriterien als dem der Effizienz – etwa Legitimität, Gerechtigkeit, Gewaltenteilung, Machterhalt.

Wir haben also damit zu leben, dass wir das politische Gebilde, dem wir unser Schicksal in beträchtlichem Masse anvertrauen, wissenschaftlich schlecht verstehen. Und dies nicht wegen mangelnden Bemühens, sondern aus prinzipiellen Gründen: Singuläre Objekte lassen sich eben kaum vergleichen und einordnen, und damit ist uns eines der wichtigsten Instrumente systematischer Erkenntnis aus der Hand geschlagen. Doch Goe-the meinte, wir sollten uns trotzdem strebend bemühen, und wir werden seinem Rat natür-lich folgen. Wir wählen dabei ein etwas unkonventionelles Vorgehen, nämlich eine Sprachkritik.

 

Wie Europa von sich spricht

Des Menschen Welt ist eine besprochene, sie erwächst aus der Kommunikation. Es ist deswegen oft hilfreich, genau hinzuhören, wie die Leute über ihre Angelegenheiten spre-chen, welche Begriffe sie brauchen, worin sie sich einig sind und worüber sie streiten.

Die EU spricht gerne und viel von sich, sei es durch Verlautbarungen ihrer Funktions-träger, sei es durch ihre umfangreichen Veröffentlichungen. Zu einem grossen Teil ge-schieht dies in Alltagssprache und ist weiter nicht von Interesse. Gelegentlich stösst man jedoch auf einen ungewohnten Gebrauch der Sprache, der einem stutzig macht. Natürlich benötigt die EU spezifische Termini, um ihre Besonderheit auszudrücken. Doch dabei gerät sie in ein Dilemma: Entweder sie verwendet herkömmliche Begriffe aus der Polit-staatssphäre, meint damit jedoch nicht das Übliche. Das kann zu Missverständnissen führen. Beispiele sind „Subsidiarität“, „Verordnung“, „Verfassungsvertrag“, „institutionelles Gleichgewicht“. Oder sie wählt neue Begriffe und riskiert, vom Normalbürger nicht ver-standen zu werden: „politische Finalität“, „Komitologie“, „Coreper“ oder „Staatenverbund“.

Dazu kommt, dass die EU in vielen und immer mehr (nationalen) Sprachen spricht. Nun ist, wie man weiss, Übersetzen kein triviales Geschäft, denn eine „wörtliche“ Übertragung kann im andern Land je nach Geschichte und Kultur andere Inhalte meinen und andere Assoziationen auslösen. Es gibt Autoren, die der Ansicht sind, die vielen Sprachen der EU verunmöglichten sogar einen echten politischen Diskurs und damit die Entstehung einer europäischen politischen Öffentlichkeit. Wie aber soll dann Demokratie möglich sein? Die Schweiz, Indien und einige andere Länder zeigen jedoch, dass Mehrsprachigkeit dafür kein Hindernis sein muss. Aber dennoch: Wenn vom Estischen über das Französische ins Maltesische übersetzt wird, steigt die Gefahr von Missverständnissen beträchtlich an!

Hören wir also genau hin, und zwar nicht nur auf die jeweils gemeinten Inhalte, son-dern auch auf den Ton, den Subtext, die Konnotationen. Was will man zum Ausdruck bringen? Ist man sich über den Inhalt im Klaren oder versucht man, Differenzen mit Formelkompromissen zuzukleistern? Was denken sich die Bürgerinnen und Bürger ver-schiedener Staaten bei bestimmten Begriffen? Wo und wann wählt man einen hohen Ton für belanglose Dinge und wo stapelt man sprachlich tief, obwohl es um Grundsätzliches geht? Wir führen im Folgenden sieben EU-„Sprachspiele“ an, welche einiges über ihr In-nenleben verraten können.

 

Sieben EU-Sprachspiele

Als im den Jahr 1991 der Vertrag von Maastricht über die Europäische Union ausgearbeitet wurde, hätten die Deutschen gerne das Adjektiv „föderal“ in die Präambel geschrieben: Es sollte eine „föderale Union“ werden. Nicht nur hatten die Deutschen mit dem Föderalismus gute Erfahrungen gemacht, für sie war dieser Begriff auch eine Versicherung gegen zu viel Brüsseler Zentralismus. Etwas verdrängt wurde dabei, dass auch den deutschen Ländern inzwischen kaum noch wesentliche Befugnisse zukommen. Die Franzosen hatten nichts dagegen, für sie bedeutet „föderal“ nicht viel, am ehesten noch – lateinisch und wörtlich – „den Vertrag betreffend“. Doch die Briten legten sich quer, denn für sie ist dieser Begriff unlösbar mit den „Federalist Papers“ verbunden, in welchen 1787 Hamilton, Madison und Jay einen starken amerikanischen Bundesstaat forderten. Deshalb bedeutet „föderal“ für die Angelsachsen Stärkung der Zentralgewalt, und das wollten das UK gera-de nicht. Man sprach jenseits des Kanals degoutiert vom „f-word“. Die Hohen Vertragspar-teien rangen um einen Kompromiss, und sie wurden wie folgt fündig: „ENTSCHLOSSEN, den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen, ...“ Voilà!

Doch damit kam man vom Regen in die Traufe, denn was „Subsidiarität“ bedeutete, war ebenso wenig klar wie „föderal“. Oder anders gesagt, „Subsidiarität“ fand deswegen Eingang in die Präambel, weil er hinreichend unklar war. Man versuchte zwar, ihn in Artikel 5 des EG-Vertrags zu konkretisieren, und zwar wie folgt: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiari-tätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Massnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“ Was sagt dieser verschwurbelte Satz? Einmal gilt die Subsidiarität nur bei nicht-ausschliesslichen Zuständigkeiten der EG. Überflüssig, dies zu sagen, denn wenn eine Kompetenz ganz der EG gehört, ist für Subsidiarität natürlich kein Platz. Allerdings ist auch nicht klar, wo die Gemeinschaft eine ausschliessliche Zuständigkeit hat, dann dieser Begriff und sein Gegenpart („konkurrierenden Zuständigkeit“) kamen in den Verträgen sonst nicht vor. Dann: Die Gemeinschaft wird tätig, wenn und soweit die „Ziele der in Be-tracht genommenen Massnahmen“ nicht anderweitig erreicht werden können. Und was ist, wenn zwar Ziele gesetzt, aber noch keine Massnahmen in Betracht gezogen wurden? Weiter: Sie wird tätig, wenn diese (Ziele etc.) nicht ausreichend von den Mitgliedstaaten erreicht werden können. Was heisst „nicht ausreichend“, wer beurteilt das? Und was ist, wenn nur einige Staaten die Ziele nicht ausreichend erreichen können? Und dann ein weiteres Kriterium: „... und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können“. Der Umfang und die Wirkung wessen? Der Ziele oder der Massnahmen? Und was heisst „besser erreicht“? Das ist sprachlich und rechtlich eine Katastrophe und nur damit zu begründen, dass sich auch noch derjenige damit identifizieren konnte, der das Gegenteil der Deutschen wollte – nämlich mehr Kompetenzen für die Gemeinschaft. Man hat dieses sprachliche Gebräu in späteren Ver-trägen immer wieder aufgewärmt, ergänzt, ein „Subsidiaritätsprotokoll“ angefügt, und trotzdem – oder gerade deswegen – sind die Kompetenzübertragungen und die Kompe-tenzvermischungen weiter gegangen.

Bemerkenswert ist auch, wie man den gemeinsamen Verband getauft und später um-getauft hat. In den fünfziger Jahren ist jemand auf den Namen „Communauté“ gekommen. (War es Pierre Uri?): Eine Gemeinschaft von Staaten, die zuerst einen Gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl und später einen umfassenden Gemeinsamen Markt errichtete: die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Das war eine schöne Bezeichnung, denn damit wurde das Gemeinsame betont, ohne den Anspruch auf einen die Staaten aushebelnden Zusammenschluss zu evozieren (wie dies etwa bei den „Vereinigten Staaten von Europa“ der Fall gewesen wäre). Und „Gemeinschaft“ hiess das Kind bis 1993, aus praktischen Gründen liess man ab den 80er Jahren die „Wirtschaft“ weg: Europäische Gemeinschaft tout court. 1992 hatte man den Binnenmarkt weitgehend vollendet und also das ursprüng-liche Ziel erreicht. Man wollte nun zu neuen Ufern aufbrechen, eine gemeinsame Währung einrichten und der Wirtschaft mehr Politik beimischen (etwa eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik). Um diesem Aufbruch das nötige symbolische Gewicht zu verleihen, musste ein neuer Name her, denn offenbar wirkte „Gemeinschaft“ etwas altväterisch. Unglücklicherweise wählte man den Allerweltsbegriff „Union“. Wer wollte, konnte an die „United Staates of America“ denken, und wer es etwas bescheidener wünschte, an die „United Nations“. So oder so: Ein spezifischer und durch Bewährung vertraut gewordener Begriff wurde durch eine inhaltsleere Vokabel ersetzt – Coca Cola durch Coke!

Doch weder „Gemeinschaft“ noch „Union“ sind Gattungsbezeichnungen, welche klar verkünden, worum es sich handelt. Man muss es erklären. Es handelt sich um einen frei-willigen Zusammenschluss von Staaten zu verschiedenen Zwecken. Die erste Gemein-schaft wollte nur Kohle und Stahl der sechs Mitgliedstaaten zu einem einheitlichen Markt zusammenfassen und so die deutsche Ruhr kontrollieren. Die zweite sollte diesen Staaten eine gemeinsame Verteidigung bescheren, was aber scheiterte. Die dritte diente der friedlichen Nutzung der Atomenergie, doch sie blieb in den Kinderschuhen stecken. Die vierte bezweckte die Schaffung eines gemeinsamen Marktes für Güter, Dienstleistungen, Menschen und Kapital. Dazu war es erforderlich, verschiedene Politiken zu koordinieren. Schritt für Schritt wurde dies realisiert. Man könnte also die Gemeinschaften immer noch wie weiland Hans Peter Ipsen 1972 „Zweckverbände funktionaler Integration“ nennen. Doch das entsprach nie ganz den Ambitionen der Hauptakteure dieses Unternehmens: Die verschiedenen Funktionen sollten nicht einfach nebeneinander stehen, sondern sich zu einem Ganzen verbinden, einer europäischen Einheit entgegenstreben. (Deshalb wohl ab 1993 auch „Union“.) War das nun noch ein Staatenbund oder schon fast ein Bundesstaat? Weder noch, sagte das Deutsche Bundesverfassungsgericht 1993: Es handle sich um eine „Staatenverbindung“, welche sich nicht auf ein Europäisches Staatsvolk stütze, sondern auf die in Staaten organisierten Völker. Da eine Demokratie eines Demos, eines Volkes bedarf, kann also die Union keine Demokratie werden, höchstens eine „Demoikra-tie“, eine Völkerherrschaft, wie einige ganz schlaue Akademiker herausgefunden haben. So viele Nomina, so viele Omina! Und was hat nun der Normalbürger davon verstanden? Gelegentlich merkt er wohl die Absicht und ist verstimmt.

Diese Gemeinschaft und diese Union tun also vieles, sehr vieles. Es gibt kaum mehr einen Bereich staatlicher Politik, in den sie nicht eingreift – mal ritzen sie nur die Oberfläche (bei der Kulturpolitik), mal setzen sie sich an die Stelle der Staaten (bei der Handelspolitik). Der „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (weitgehend deckungsgleich mit dem früheren EG-Vertrag) listet 24 Tätigkeitsbereiche auf, vom Binnenmarkt zum Gesundheitswesen, von der Handelspolitik bis zum Katastrophenschutz. Im EG-Vertrag bedeutete eine „Gemeinsame Politik“, dass den Mitgliedstaaten hierbei nur noch wenige Ausführungskompetenzen bleiben – so etwa bei der Gemeinsamen Agrarpolitik. Dies gilt seit Maastricht auch für die „Gemeinsame Währungspolitik“, soweit sie denn eben reicht. Weitgehend vergemeinschaftet sind überdies die Zoll- und Handelspolitik und die Wett-bewerbspolitik. Mit dem Unionsvertrag wollte man, wir haben es gesagt, zu neuen Ufern aufbrechen. Bisher gab es eine „Europäische Zusammenarbeit in der Aussenpolitik“. Das versteht jeder. Das reichte nun offenbar nicht mehr. In seinem fünften Titel führte der U-nionsvertrag eine „Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik“ ein. In Lissabon kam eine „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ dazu. Doch die Staaten waren nicht bereit, in diesen Kernbereichen der Souveränität wesentliche Kompetenzen abzutreten oder sie gar ganz an die Gemeinschaftsorgane zu übergeben. Deshalb werden diese Politiken im „intergouvernementalen“ Modus betrieben, in welchem die nationalen Re-gierungen die Fäden in der Hand behalten. Das meiste kann nur einstimmig von allen 27 beschlossen werden. Deshalb, aber auch, weil sich die Länder in den meisten aussenpolitischen Fragen nicht einig sind (vgl. Intervention in Libyen!), ist aus diesen Poli-tiken nicht viel geworden. Das ist wohl auch nicht möglich, solange im Sicherheitsrat der UNO als ständige Mitglieder Grossbritannien und Frankreich sitzen. Doch, indem man von „Gemeinsamer Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ spricht, suggerierte man dem Publikum, es gäbe so etwas nun tatsächlich!

Irgendetwas zwischen einem Staatenbund und einem Bundesstaat sei die Union, so haben wir gesagt. Manche verstehen das zeitlich: Man sei auf dem Weg vom Bund zum Staat. Metaphern oder Formeln, die dieses Auf-dem-Weg-Sein ausdrücken, sind denn auch zahlreich. Manche meinen fernöstlich, „der Weg sei das Ziel“, manch andern reicht das aber nicht, sie möchten wenigstens die Richtung kennen. Die Integration wird gelegentlich mit einem Fahrrad verglichen, welches umfalle, wenn es nicht weiterfahre. Das Weiterfahren als als raison d’être, egal wohin! Auch die berühmte „politische Finalität“ drückt aus, dass man noch nicht da angelangt ist, wo man hin will. Wohin genau, wird zwar auch damit nicht gesagt, aber immerhin „politisch“. In der letzten Zeit, seit die Wäh-rungsunion schlingert, wird wiederum die „Politische Union“ bemüht, die schon in Maas-tricht auf der Wunschliste stand. Eine andere schöne Formel, die in den Präambeln der verschiedenen Verträge immer wieder auftaucht, ist, es gehe um „einen immer engerer Zusammenschluss der Völker Europas“. Doch was genau soll da enger werden? Kann es auch zu eng werden? Mit der englischen Version einer „ever closer Union of the people of Europe“ kann man auf jeder britischen Party ein unbehagliches Gelächter auslösen: Zu einigen Völker möchten „her majesty's subjects“ dann doch etwas Distanz halten! Nun gehört zwar das Auf-dem-Weg-Sein zum Mensch-Sein, und alle Institutionen wandeln sich und entwickeln sich weiter. Aber beim Staat, der den Rahmen für unser praktisches Leben abgehen soll, möchten wir dann doch nicht alles offen lassen. Staatszwecke ändern sich in der Regel nicht allzu rasch, und auch die grundlegenden Institutionen sind der Absicht nach auf Dauer gestellt. Das ist ja der Sinn einer Verfassung.

Wie aber steht es nun mit der Verfassung Europas? Im materiellen Sinn legt eine Ver-fassung den Zweck, die Befugnisse, die Institutionen und die Spielregeln eines Verbandes fest und regelt die Beziehungen zwischen den konstituierenden Einheiten und dem Ge-samtverband. In diesem Sinne verfügt die europäische Gemeinschaft seit jeher über eine Verfassung, denn genau diese Fragen werden in den Gründungsverträgen und ihren Er-gänzungen geklärt. Doch ein Grundlagendokument, welches „Verfassung“ heisst und vom Volk oder den Völkern gutgeheissen worden ist, hat die EU nicht. Solange es um die Wirt-schaftsgemeinschaft ging, hat dies niemand als Mangel empfunden. Als man dann jedoch in Maastricht den grossen Sprung nach vorn wagte, drängte sich die Verfassungsfrage in den Vordergrund. Der Unionsvertrag hatte verschiedene offensichtliche Mängel und wur-de schon bald ergänzt und revidiert, was ihn immer unübersichtlicher und unverständlicher machte. Zudem verlangt jede Veränderung der Verträge die Zustimmung aller Mit-gliedstaaten, es müssen also enorme Kompromisse gemacht und Ausnahmen gewährt werden. Eine echte Verfassung aber sollte klar und übersichtlich sein und mittels vernünf-tiger Verfahren abgeändert werden können, sonst droht Sklerose. Deshalb begann man nach der Jahrtausendwende in der EU ernsthaft über eine Verfassung im formellen Sinne zu diskutieren. 2002 berief man einen Konvent ein, der ein solches Dokument ausarbeiten und ihm die nötige Legitimität verleihen sollte. Der Konvent umfasste 105 Mitglieder – Europaparlamentarier, nationale Abgeordnete, Regierungsvertreter etc. – und wurde von früheren französischen Staatspräsidenten Valérie Giscard d’Estaing geleitet. Er war da-mals 76 jährig. Fünfzehn Monate später lag ein umfangreiches Dokument vor, welches den Titel trug „Vertrag über eine Verfassung für Europa“. Und „Vertrag“ bedeutete nun weiterhin einen völkerrechtlichen Vertrag, der von allen ratifiziert werden musste – wie bisher. Mit „Verfassung“ betrieb man also in gewisser Weise Etikettenschwindel. In zwei Gründungsmitgliedern der EWG, in Frankreich und den Niederlande, sagte die Bevölkerung Nein. Damit war das Projekt gescheitert. Man hat dann einige wichtige Neuerungen im herkömmlichen Verfahren in Lissabon in die bisherigen Verträge integriert. Damit ist aber das rechtliche Grundlagenwerk der Union noch unübersichtlicher geworden als es schon bisher war.

 

Konklusion

Was sagt nun diese kleine Sprachanalyse über das „unidentified political object“ EU aus? Die Bilanz ist ernüchternd: Da werden oft grosse Worte gebraucht, hinter denen wenig Inhalt steht. Da werden Begriffsverwirrungen produziert und durch Übersetzung in ver-schiedene kulturelle Kontexte potenziert. Leerformeln übertünchen unüberbrückbare Dif-ferenzen, und akademische Begriffkonstrukte tun so, als ob sie eine neue Realität abbil-deten. Welches ist der Grund für diesen unerfreulichen Befund? Der Grund ist, dass sich die Mitgliedstaaten der europäischen Union nur in sehr Wenigem einig sind, sowohl was Ziele und Zwecke, was Inhalte und Sub-stanz, als auch was Institutionen und Verfahren angeht. In der Folge werden unschöne Geräusche mit Wortgeklingel übertönt und Gräben mit Begriffsmüll zugeschüttet. Doch man will ja fortschreiten! Und wenn man dann feststellt, dass der Vorrat an Gemeinsamkeit erschöpft ist, tut man trotzdem etwas: Man bastelt am Bestehenden herum und erhöht damit die Undurchschaubarkeit. Die Union ist seit einigen Jahren im Zustand einer spasti-schen Lähmung. Da kann eine schwere Krise entweder letal sein oder aber die Lebens-kräfte wiedererwecken. Hoffen wir auf Letzteres!

 

zurück