Erschienen in: Schweizer Monat, Ausgabe 994, März 2012, S. 32

Durchwursteln. Die EU – ein Irrläufer der Evolution?

Im Zentrum der Europadiskussion steht gegenwärtig die Staatschuldenkrise, die zu einer Krise der Europäischen Währungsunion geworden ist. Dies war absehbar, denn die Eurozone erfüllt bei weitem nicht die Bedingungen, welche Ökonomen an einen optimalen Währungsraum stellen. Selbst wenn die Konvergenzkriterien eingehalten worden wären, und selbst wenn künftig strengere Finanzregeln gelten: das realwirtschaftliche Auseinanderdriften von Nord und Süd bleibt ein Sprengsatz für den Euro. Die italienische Einigung im 19. Jahrhundert mit der Verarmung des Südens ist dafür ein Menetekel.

Der Euro ist zehn Jahre alt, doch bereits 1992 ist die Währungsunion in den Vertrag von Maastricht eingeschrieben worden. Und vieles andere mehr: Aussen- und Sicherheitspolitik, Polizei und Justiz, Unionsbürgerschaft – kurz, man hat damals den grossen Schritt vom gemeinsamen Markt zu politischen Union tun wollen. Ist dies gelungen? Ist, unabhängig von der Schuldenkrise, diese Union eine gute Sache, ist sie funktionsfähig und zukunftsträchtig? Unsere Antwort ist Nein. Der damals eingeschlagene Weg ist ein „Irrläufer der Evolution“, und zwar deswegen, weil die Institutionen der EU gar nicht in der Lage sind, die ihr zugedachten Aufgaben zu erfüllen. Die Eurokrise ist nur der gegenwärtig sichtbarste Ausdruck tiefer liegender struktureller Probleme. Diese These möchten wir im Folgenden begründen.

 

Der Binnenmarkt als Erfolgsprogramm

Es gibt Leute, welche die ganze europäische Integration für eine Fehlentwicklung halten. Wir gehören nicht dazu. Wir sind der Meinung, die Herstellung eines gemeinsamen Marktes für Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräfte und Kapital sei eine gute Sache – nicht fehlerfrei zwar, aber mit einer übers Ganze gesehen positiven Bilanz für Europa. Dieser gemeinsame Markt geht weit über das hinaus, was andere wirtschaftliche Verbände bisher erreicht haben (EFTA, WTO etc.). Die Zölle und Mengenbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten wurden in der EU ganz abgeschafft. Auch die nichttarifären Schranken sind fast gänzlich verschwunden – durch Harmonisierung und gegenseitige Anerkennung von Vorschriften. Die Menschen können leben und arbeiten, so wie wollen. Das ist im Kern ein liberales Projekt, welches zu einer effizienteren Allokation der Ressourcen und damit zu Wachstum und Wohlstand beigetragen hat. Schattseiten sind etwa die Agrarpolitik und eine Tendenz zur Überregulierung und -harmonisierung, welche das freie Spiel der Kräfte behindern.

Dass dieses Integrationsziel – der Binnenmarkt – bis 1992 realisiert werden konnte, ist vor allem den Institutionen der Gemeinschaft zu verdanken. Die Grundlagen dazu waren schon in den fünfziger Jahren gelegt worden. Im Gegensatz zu internationalen Organisationen hat man hier Organe geschaffen, welche sich den Staaten gegenüber durch eine gewisse Unabhängigkeit auszeichnen – man spricht von Supranationalität: Die Kommission hat ein umfassendes Vorschlagsrecht und überwacht die Einhaltung der Verträge und des Sekundärrechts. Der Ministarrat kann in der Regel mit qualifizierter Mehrheit beschliessen, und das Parlament spielt in der Gesetzgebung eine immer wichtigere Rolle. Die Gesetze richten sich nicht nur an die Staaten, sondern oft direkt an Bürger und Unternehmen. Und der Gerichthof hat umfassende Kompetenzen der Rechtsauslegung, der Überwachung und der Sanktion. Es ist also ein neuartiges politisches System entstanden, welches stärker in die nationalen Kompetenzen eingreift, als dies bisher staatenübergreifend üblich war.

Diese Institutionen sind unseres Erachtens hinreichend und notwendig für die Einrichtung und den Betrieb des gemeinsamen Marktes. Schaut man sich etwa die WTO an, welche noch nicht einmal eine Freihandelszone ist und seit längerem stagniert, dann wird deutlich, dass klassisch intergouvernementale Mechanismen nicht ausreichen, um Märkte umfassend gegeneinander zu öffnen. Nur mit der qualifizierten Mehrheit im Rat auf Vorschlag der Kommission ist es möglich, Regeln gegen die Sonderinteressen der einzelnen Staaten aufzustellen. Nur mit einer kräftigen Vollzugsbehörde kann die Umsetzung in den Staaten sichergestellt werden. Und nur mit einem machvollen juristischen Organ ist gewährleistet, dass ein sicheres Rechtssystem entsteht.

Die heiklere Frage ist, ob die dazu notwendige Übertragung von Kompetenzen – und also eine gewisse Beschränkung der mitgliedstaatlichen Souveränität – legitim sind. In der Regel wird dies bejaht, und zwar mit folgender Argumentation: Zwar fehlen der Union die klassische Gewaltenteilung und eine voll ausgebaute Demokratie, allerdings sind ihr auch keine der schwergewichtigen, hoch legitimationsbedürftigen Staatsaufgaben übertragen worden (Sicherung von Ruhe und Ordnung, Verteidigung, Aussenpolitik, Steuermonopol, Organisationshoheit). Ausserdem gibt es nicht nur eine Legitimität durch Teilnahme (Demokratie), sondern auch Legitimität durch Teilhabe, nämlich Teilhabe am Wohlstand, welchen die Gemeinschaft ermöglicht hat. Es ist deswegen nicht erstaunlich, dass bis 1992 der grosse Teil der Bürgerinnen und Bürger der Integration gegenüber positiv eingestellt war. Selbst die Briten hatten 1975 mit 67 Prozent Ja zum Verbleib in der EWG gesagt. Alle nach 1989 im Osten Europas neu oder wieder entstandenen Staaten wollten der EU so rasch als möglich beitreten. Es ist hier also ein neuartiges supranationales System mit beschränkten Aufgaben entstanden, welches alle Voraussetzungen erfüllte, um längerfristig nützlich und stabil zu sein.

 

Soweit das Widerlager für unsere These, nun sie selbst.

 

Maastricht und die Folgen

Was geschah in Maastricht? Seit Beginn der europäischen Integration sprach man von der „politischen Finalität“ und von einer „immer engeren Union der Völker Europas“. Wohlweislich hatte man diese Ziele nie genauer definiert, denn so hatten alle die Möglichkeit, ihre Phantasien an einen fernen Himmel zu projizieren. Nach dem Erfolg des Binnenmarktprogramms und dem Zerfall der Sowjetunion hiess nun aber die Parole: „Jetzt oder nie“. Nun kamen alle Wünsche aufs Tapet – von der Währungs- bis zur Wirtschaftsunion, von der gemeinsamen Aussenpolitik bis zur Verteidigung, von Europol bis zur Unionsbürgerschaft. Während für die Währungsunion schon seit langem Blaupausen bestanden, blieb die „Politische Union“ umstritten und konturlos. Im Maastricht nun taufte man erst einmal die „Gemeinschaft“ in „Union“ um und stülpte über die bestehenden Verträge einen neuen. Der alte EG-Vertrag blieb bestehen, wurde aber vielfach modifiziert und um einige Politiken ergänzt. Man sprach hierbei nun von der „ersten Säule“, in der wie bisher nach der supranationalen Methode gearbeitet wurde. Die Regeln über die Währungsunion wurden ebenfalls in den Gemeinschaftsvertrag gepackt, inklusive der dafür notwendigen Institutionen. Der neue Unionsvertrag dagegen enthielt Bestimmungen über eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik sowie über eine verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Diese heiklen Bereiche wollte man allerdings nicht den Gemeinschaftsorganen überlassen, sondern baute dafür zwei „intergouvernementale Säulen“, in denen der Ministerrat und der Europäische Rat die Hauptrollen spielen. Damit vervielfachten sich die Entscheidungsverfahren. Zu einer umfassenden Neuordnung der Grundlagen der Union kam es also Maastricht nicht, das Vertragswerk glich einem übervollen, schlecht gepackten Koffer, der nur mit Mühe geschlossen werden konnte.

 

Durchwursteln, reparieren und aussitzen

Die Dänen lehnten in einer Volksabstimmung das Vertragswerk ab, stimmten dann aber, nach minimalen Zugeständnissen und heftiger Seelenmassage, doch noch zu. Ausserdem machten Dänemark und Grossbritannien bei der Währungsunion nicht mit. Natürlich war niemand mit diesem Konglomerat von Verträgen, Protokollen, Säulen und Ausnahmeregelungen glücklich, und um die Mängel zu beheben, stolperte man im nächsten Jahrzehnt von einer Revision zur nächsten. Der Vertrag von Amsterdam trat 1999 in Kraft. Ziel dieser Revision war es, die Union für die Osterweiterung fit zu machen, das heisst die Entscheidungsmechanismen zu straffen und die Stimmengewichte neu zu verteilen. Dies misslang jedoch, weshalb schon für das Jahre 2000 eine neue Regierungskonferenz einberufen wurde. Sie führte zum Vertrag von Nizza, der 2003 in Kraft trat. Diesmal legten sich die Iren quer und mussten eines Besseren belehrt werden. Da man auch jetzt die institutionellen Hausaufgaben nicht gemacht hatte und die Osterweiterung vor der Türe stand, fügte man dem Vertrag eine „Erklärung über die Zukunft der Union“ bei, welche ein Programm künftiger notwendiger institutioneller Veränderungen enthielt.

Einen ernsthaften Versuch, Remedur zu schaffen, unternahm man 2002 mit dem sogenannten Verfassungskonvent. Dies war eine grosse Versammlung, die den Auftrag hatte, ein neues Grundgesetz auszuarbeiten. Das Resultat war der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“, also ein Hybrid: Materiell war es eine neue Verfassung – die allerdings stark den bisherigen Verträgen glich –, formell war es aber weiterhin ein völkerrechtlicher Vertrag, der von allen Staaten ratifiziert werden musste. Diesmal sagten die Franzosen und die Niederländer Nein. Da dies zwei Gründungsmitglieder der Gemeinschaft sind, machte man keinen Versuch, sie zu überzeugen. Die „Verfassung“ wurde versenkt. Man hat dann mit dem Vertrag von Lissabon einige wichtige Bestimmungen im herkömmlichen Revisionsverfahren in die bisherigen Verträge integriert. Nun sagten wiederum die Iren Nein, wiederum machte man einige Zugeständnisse, dann sagten sie Ja. In Frankreich und den Niederlanden verzichtete man vorsichtigerweise auf Referenden. Am 1. Dezember 2009 trat dieser Vertrag in Kraft – oder genauer gesagt, die beiden Verträge: Ein „Vertrag über die Europäische Union“ und ein „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“. Dazu kommt noch eine Charta der Grundrechte. Zusammengenommen etwa 500 Seiten Text.

 

Soweit also diese etwas verwirrende Geschichte seit 1992. Was genau ist nun aber schief gelaufen? Man kann diese Frage von verschiedenen Seiten her angehen. Einmal beruht die EU bis heute auf völkerrechtlichen Verträgen, die der Zustimmung aller Mitgliedstaaten bedürfen – nach deren eigenen Regeln: Oft genehmigt das Parlament, in einige Ländern ist eine Volksabstimmung erforderlich, und gelegentlich steht es den Regierungen frei, das Volk zu konsultieren. Um die Zustimmung aller Staaten zu erlangen, müssen in den Vertragsverhandlungen weitreichende Kompromisse gemacht und Ausnahmen zugelassen werden. Das System wird dadurch immer komplizierter und uneinheitlicher, die Entscheidungsverfahren werden undurchsichtiger, die Vertragstexte umfangreicher und unverständlicher. Nur Spezialisten ist es noch möglich, sich zurechtzufinden. Das ist nicht gut, denn „eine immer engere Union der Völker“ bräuchte Klarheit, Einheitlichkeit und Gleichstellung der Mitgliedstaaten.

 

In der Sackgasse der immer fortschreitenden Integration

1992 wollte man über die Wirtschaft hinausgehen und sich stärker der politischen Integration zuwenden. Notwendigerweise geriet man hier auf das Feld der schwergewichtigen, souveränitätsbezogenen Staatsaufgaben, die wir oben erwähnt haben. Man betrat „die Innenhöfe der Souveränität“. Um die Staaten zu schonen, hat man hier auf die Gemeinschaftsmethode verzichtet und ist zu intergouvernementalen Verfahren zurückgekehrt. Doch diese sind eben wegen der Einstimmigkeit meist nicht in der Lage, eine wirksame Politik zu betreiben. Ausserdem verzichtet man auf die Legitimationsquelle des Parlaments. Dazu kommen die von verschiedenen Staaten verlangten Ausnahmen und Opt-outs. Das führte nun dazu, dass man zwar vollmundig von einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik sprach, diese jedoch bis heute nicht über Ansätze hinausgekommen ist. Von der angekündigten gemeinsamen Verteidigung hört man auch nichts mehr. Nicht einmal eine gemeinsame Einwanderungs- und Asylpolitik vermochte man auf die Beinen zu stellen. In die Währungsunion wurden Staaten aufgenommen, die keinesfalls hineingehören, dafür machen andere, welche die Bedingungen erfüllen, nicht mit. Die nun offenbar notwendige Fiskalunion wollen einige Staaten gar ausserhalb der Verträge verwirklichen – weil das Vereinigte Königreich nicht mitmacht. Das ist alles sehr verwirrend und nicht dazu angetan, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in diesen Pseudo-Staat zu stärken, geschweige denn eine Unionsweite Solidarität zu schaffen. Damit gibt es aber auch keinen „Demos“, kein die Union tragendes Volk, und damit auch keine eigentliche Demokratie. Kurz und schlecht, die gegenwärtigen Institutionen der EU sind nicht in der Lage, die ihr übertragenen Aufgaben in effizienter und legitimer Weise zu erfüllen. Und gleichzeitig ist das System der Vertragsgrundlage wegen nicht mehr in der Lage, sich institutionell weiterzuentwickeln.

Die Integration ist an einem Punkt angelangt, an dem sich verschiedene grundsätzliche Fragen stellen: Staatenbund oder Bundesstaat? Verträge oder Verfassung? Supranational oder intergouvernemental? Gleiche Rechte und Pflichten für alle oder variable Geometrie? Fiskalische Eigenverantwortung der Staaten oder Solidarhaftung? Gemeinsame Aussenpolitik oder 27 Sonderzüge? Bisher hat man solche Fragen immer offen gelassen, Mittelwege und Kompromisse gesucht, auf eine alles lösende Verfassungsgebung gewartet. Damit aber hat man die Legitimationsgrundlagen zunehmend untergraben, anstelle einer „immer engeren Union“ ist ein Flickenteppich entstanden, der an das untergehende römische Reich deutscher Nation erinnert.

 

Ist Souveränität teilbar?

Der eigentliche Konstruktionsfehler aber ist, dass man in Europa annimmt, Souveränität wäre beliebig teil- und wieder zusammensetzbar, eine Quäntchen in Berlin, ein Quäntchen in Brüssel. Doch dem ist nicht so, ein Staat ist entweder souverän oder er ist es nicht. Darauf beruht die internationale Ordnung. Diese Staaten können zwar freiwillig völkerrechtliche Verpflichtungen eingehen, diese aber müssen grundsätzlich kündbar sein. Doch wenn sie ihre Souveränität partiell und auf Dauer an eine supranationale Autorität abgehen, dann sind sie streng genommen gar nicht mehr in der Lage, für die Verträge grade zu stehen, auf denen diese Autorität beruht! Mit Entmündigten macht man keine Geschäfte. Wenn sich Staaten immer enger zusammenschliessen wollen, dann gelangen sie eines Tages an einen Ort mit dem Hinweisschild „Hic Rhodus, hic salta“. 1848 haben die Eidgenossen ihren Bund souveräner Staaten in einen souveränen Bundesstaat umgewandelt.

Doch offenbar sind die meisten Mitgliedstaaten der Union nicht bereit, einen solchen Sprung zu machen. Und wohl nur weit schwerere Krisen und Bedrohungen als die heutigen könnte daran etwas ändern. Eine zweite Möglichkeit wäre der „Rückbau“ auf die Gemeinschaft und den Binnenmarkt. Doch die heutige Generation von Politikerinnen und Politikern ist noch derart von der Ideologie einer immer fortschreitenden Integration erfüllt, dass sie dazu nicht Hand bieten wird. Das wahrscheinlichste Szenarium ist deswegen Weitermachen, Durchwursteln, Reparieren und Aussitzen. Man kann auch lange in die Irre laufen!