erschienen in: Schweizer Monat, Ausgabe 992, Dezember 2011/Januar 2012, S. 15

Ist die Schweiz eine Nation?

Als Gymnasiast ging ich oft und gerne in die Landesbibliothek. Sie lag unserer Schule direkt gegenüber, und der moderne Bau von Oeschger, Kaufmann und Hostettler hatte es mir angetan. Heute heisst die Institution „Schweizerische Nationalbibliothek“; und das Landesmuseum Zürich wird zum „Schweizerischen Nationalmuseum“. Wird etwa die Schweiz im 21. Jahrhundert spät noch eine Nation? Nein, werden wir beruhigt, es wäre nur so, dass „Landes...“ im Ausland zu Missverständnissen führen könnte. Ausserdem hätte es schon immer „Bibliothèque nationale“, „Musée nationale“ geheissen. Handelt es sich hier also um eine harmlose Namensänderung oder steckt doch ein wenig mehr dahinter? Ist die Schweiz eine Nation wie jede andere?

„Nation“ war schon immer ein schwer fassbarer Begriff, der vor allem zu politischen Zwecken gebraucht und missbraucht wurde. Er stammt wortgeschichtlich von lateinisch natio, Geburt, Herkunft, Volk ab, und bis in die Neuzeit wurde nationes an den Universitäten gebraucht, um die Studenten einer bestimmten Herkunft und Sprache zu bezeichnen. Später dann, mit der Herausbildung des modernen Staates, bezeichnete die Nation gleichsam das Staatsvolk als eine ideelle Einheit. In Frankreich sind das alle Menschen, die dem einen Gesetz unterstellt sind und also durch das eine Parlament als Gesetzgeber repräsentiert werden. Weil dies in Deutschland bis ins 19. Jahrhundert nicht der Fall war, meinte hier Nation vor allem Kultur- und Sprachnation. Diese Differenz erklärt schon weitgehend die Differenz zwischen „Bibliothèque nationale“ und „Landesbibliothek“, denn die Schweiz ist eben, seit 1848 eine Nation im französischen Sinne, wogegen sie mit sprachlicher und kultureller Einheit nie aufwarten konnte. Sie wurde lange Zeit „das Land der Eidgenossen“ genannt. Doch auch in Frankreich wurde ab dem 18. Jahrhundert die Einheit von Sprache und Kultur wichtig, die regionalen Sprachen wurden unterdrückt: „La France – nation une et indivisible“ klingt gut, „La Suisse – nation une et indivisible“ schon weniger. Ist die Schweiz überhaupt eine Nation, ein souveräner Nationalstaat?

 

Der Nationalstaat ist ein Zerfallsprodukt des Reiches

Der souveräne Staat ist eine europäische Erfindung des 17. Jahrhunderts und er trat, im Gegensatz zum „Reich“, immer in der Mehrzahl auf. Und diese Staaten sind Zerfallsprodukte des Reiches. Die Reichsidee, der Kaiser, das geht auf das antike Rom zurück. Dann kamen die Wirren der Völkerwanderung, und dann hat Karl der Grosse das Reich wieder errichtet, von Rom bis Friesland und von der Bretagne bis nach Bayern. Papst und Kaiser wurden nun das Machtduopol, welches Europas Schicksal für tausend Jahre bestimmte. Dieses Reich wurde immer wieder geteilt und Teile wurden wieder vereinigt, Friedrich II von Hohenstaufen trug neben der Reichskrone diejenigen von Sizilien und Jerusalem, und im Herrschaftsbereich Karl V ging die Sonne nie unter. Welche Völker, Sprachen und Kulturen zum Reich gehörten, war belanglos, der Kaiser hielt es zusammen. Dessen tatsächliche Herrschaftsmacht wurde im Laufe der Zeit schwächer, doch grundsätzlich war sie bis in die Neuzeit nicht in Frage gestellt: Das Reich bildete die Klammer, welche die Völker zusammenhielt.

Dann aber verselbständigten sich im Westen und Norden Europas Königreiche – Portugal, Frankreich, England, Dänemark –, welche die Oberhoheit des Kaisers nicht mehr anerkannten. Es etablierten sich absolutistische Herrscher, welche ihre Rechte direkt von der Gnade Gottes und der Macht ihrer Armeen ableiteten. Der Westfälische Frieden von 1648 gründete darauf, dass es nun in Europa mehrere souveräne Staaten gab, die unter sich Verträge abschliessen konnten. Im Osten dagegen herrschten weiterhin Kaiser, Zaren und Sultane über Vielvölkerreiche. Reiche waren also in Europa vom Frühmittelalter bis in die Moderne die vorherrschende politische Organisationsform. Doch dann kam der eigenständige Staat, und er wurde zum Erfolgsmodell. Neue Staaten bildeten sich in Europas Mitte durch Vereinigung – Deutschland, Italien –, weiter im Osten durch Zerfall der alten Reiche. Heute zählt Europa über vierzig Staaten, 27 davon gehören zur Europäischen Union. Ein neues Reich? War der Nationalstaat nur ein kurzlebiger Irrläufer der Evolution?

Und wie ging es in diesem Prozess des „Nation-building“ der Schweiz? Gehörte sie zu den Vorläufern oder eher zu den Nachzüglern? Eigenartigerweise zu beiden. In der frühen Neuzeit wurde sie zu einem Pionier in der Loslösung vom Reich. Mit Gessler und Tell hat dies fast gar nichts zu tun, denn damals kämpfte man für Freiheiten, die der Kaiser gewährt hatte und die es gegen lokale Fürsten zu verteidigen galt. Auch der Schwabenkrieg von 1499 führte nicht zum Ausscheiden aus dem Reichsverband, jedoch zu einer Schwächung des kaiserlichen Einflusses. Noch im 17. Jahrhundert stellte man die Kantonswappen überall und regelmässig unter die Fittiche des Reichsadlers. Irgendwie gehörte man doch noch dazu. Irgendwie aber auch nicht, denn „das Land der Eidgenossen“ oder das „Corpus helveticum“ wurde zunehmend als selbständiger Herrschaftsbereich anerkannt. Schon 1530 sandte der französische König einen Botschafter nach Solothurn – zwecks Absicherung der Soldverträge. Man tat sich allerdings in Europa schwer mit diesem „unidentifizierbaren republikanischen Konglomerat“.

Und dann der Westfälische Friede. Die Schweiz war vom dreissigjährigen Krieg verschont geblieben, und deswegen hatte sie auch keinen Anlass, einen Vertreter nach Münster und Osnabrück zu senden. Auf eigene Initiative nahm jedoch der Basler Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein teil. Inzwischen waren die Beziehungen der Eidgenossenschaft zu Frankreich stärker geworden als diejenigen zum Reich, und Frankreich war daran interessiert, dass die Schweiz sich ganz vom Reich löste. Die Franzosen rieten deshalb Wettstein, für die Schweiz die Souveränität zu fordern. Doch dieser Begriff war noch neu und sein Gebrauch unklar. Was die Schweiz nach zähem Verhandeln erhielt, war eine Nichtmehrunterstellung unter das Reichskammergericht, eine sogenannte Exemtion, welche aber realiter nichts änderte. Da aber markante Daten beliebt sind, sagt man gelegentlich, die Schweiz habe 1648 ihre völkerrechtliche Unabhängigkeit erlangt.

 

War die Alte Eidgenossenschaft souverän?

Die Idee des souveränen, meist absolutistisch regierten Staates setzte sich also in Europa im 17. und 18. Jahrhundert durch. Was bedeutete dies für die Eidgenossenschaft? Souveränität hat eine Innen- und eine Aussenseite, die sich gegenseitig bedingen: Dass der Fürst im Innern des Landes tatsächlich und ausschliesslich gebietet (Monopol der legitimen Gewaltanwendung, Monopol der Gesetzgebung), ist die Voraussetzung dafür, dass die andern, seinegleichen, ihn als legitimen Vertreter seines Staates respektieren. Und dass er die Interessen seines Landes nach aussen wirkungsvoll vertreten kann – à la rigueur auch mit militärischen Mitteln –, ist die Voraussetzung dafür, dass die Legitimität seiner Herrschaft im Innern anerkannt wird. Die Eidgenossenschaft wurde zwar in ihrer Unabhängigkeit vom Reich anerkannt, doch zur Souveränität fehlten ihr wichtige Voraussetzungen. Sie verfügte über keinerlei zentrale Autorität, die für das Land sprechen konnte, und sie hatte keine schlagkräftige moderne Armee, um ihre Interessen zu verteidigen. Sie blieb ein Bündnissystem von dreizehn weitgehend unabhängigen Republiken mit äusserst verschiedener innerer Verfassung. Die Tagsatzung war eine diplomatische Konferenz, welche nach Instruktionen verhandelte und nur einstimmig beschliessen konnte. Die Schweiz war eher ein Refugium deutscher Kleinstaaterei denn ein moderner Staat. Dass dieses Gebilde im 17. und 18. Jahrhundert überlebte, hat vor allem damit zu tun, dass Frankreich und Habsburg ein Interesse an einem „neutralen“ Puffer hatten.

Doch dann fegte Napoleon über Europa, die Eidgenossenschaft konnte ihn auch nicht aufhalten. Er liess sie aber als Puffer zu Österreich bestehen, räumte jedoch mit den Strukturen des Ancien régime auf und schuf mit der helvetischen Republik einen modernen, zentralistischen Staat. Doch solches war den Eidgenossen völlig fremd; der Korse sah dies ein und reföderalisierte das Land mit der Mediationsverfassung. Die alten Gemeinen Herrschaften, die Untertantengebiete und die zugewandten Orte wurden gleichberechtigte Kantone. Diese Verfassung funktionierte nicht schlecht, doch dann kam der Sturz Napoleons, der Wiener Kongress, die Restauration. Und für die Schweiz begann eine dreissigjährige Umbruchphase, in welcher zuerst die reaktionären Kräfte obenauf schwangen, schliesslich aber die liberal-bürgerliche Bewegung den Sieg davon trug. Sie gab nach dem Sonderbundskrieg 1848 dem Land die neue Verfassung, die es bis heute prägt.

 

Ist die Confoederatio helvetica ein Nationalstaat?

War die Schweiz nun ein Nationalstaat geworden? Ja und Nein. „Confoederatio helvetica“ wies nach wie vor auf einen Staatenbund hin. Doch sie hatte eine Bundesregierung, welche unter anderem für die Aussenpolitik zuständig war, und sie baute eine Armee auf, die das Land verteidigen konnte. Einige Hürden für den Handel und die Industrie im Innern wurden beseitigt, doch im Übrigen spielten die Kantone weiterhin die Hauptrolle. Nach aussen aber erfüllte die Schweiz die Kriterien eines souveränen Staates, und der Bundesrat vertrat ihre Interessen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit mehr oder weniger Geschick.

In allen Ländern waren inzwischen die alten Bildungen an Religion und Fürstenhäuser zerbrochen, und die Arbeiterklasse begann sich aufzulehnen. Die Eliten entdeckten in der Nation ein neues Bindemittel, eine neue Weise des Zusammenhalts und der Abgrenzung gegen aussen. Die Ideologie des Nationalismus griff um sich, und es gelang den Regierungen immer wieder, die Völker hinter sich zu scharen und gegen Nachbarn in den Krieg zu führen. Diese Ideologie aber stützt sich auf die Einheitlichkeit des Volkes, sei sie nun real sprachlich und kulturell gegeben oder sei sie von oben herab dekretiert. Und daran gebrach es der Schweiz. Nicht nur war sie äussert heterogen was Geschichte, Sprache, Konfession und Kultur anlangte, ihre Identität hing geradezu von der Anerkennung und Perpetuierung dieser Differenzen ab – eine recht paradoxe Operation. Mehr der Not gehorchend als dem eignen Triebe versuchten zwar die eidgenössischen Eliten, mittels Gründungsmythen, Hymnen, Schützenfesten allegorischen Darstellungen so etwas wie eine gesamtschweizerisches Bewusstsein zu schaffen; aber was den Genfer Banquier, den Bergbauern vom Ofenpass und den Tuchhändler aus St. Gallen wirklich mit dem Rütli oder Grütli verband, blieb immer einigermassen unklar.

Die Schweiz war also im 19. Jahrhundert formell ein Staat wie jeder andere in Europa, doch er zeichnete sich durch so viele Besonderheiten aus, dass es den Nachbarn schwer fiel, ihn zu begreifen. Fast alle waren König- oder Kaiserreiche, die Schweiz eine in der der Wolle eingefärbte Republik; wer anderswo gegen die Herrscher aufbegehrte, fand hier Zuflucht. Die meisten Staaten hatten eine starke Zentralgewalt, in der Schweiz blieb sie schwach, die meisten Kompetenzen und Ressourcen blieben bei den Kantonen. Wo sonst Einheit des Volkes und der Nation gepredigt wurde, feierten die Schweizer die Differenzen bis zum Exzess. Die meisten Staaten wurden von kleinen Oberschichten und Eliten regiert, in der Schweiz beteiligte sich das Volk mittels immer neuer Instrumente an der Macht, oder jedenfalls an ihrer Kontrolle. Nirgends sonst wie in der Schweiz ist „Volkssouveränität“ zur Wirksamkeit gelangt. Die meisten Staaten verwickelten sich immer wieder in Bündnisse und Kriege, die Schweiz mischte sich nicht in fremde Händel ein. Sie war bis zu einem gewissen Grade bereit, das Spiel der Staaten mitzuspielen – sie war dazu auch aus ökonomischen Gründen gezwungen – doch sie blieb fremd unter ihnen. Ein politisches System sui generis.

 

Die Schweiz und das vereinigte Europa

Spätestens nach den zwei grossen Weltkriegen hatte der Nationalstaat einen schlechten Ruf, denn er wurde für sie verantwortlich gemacht. Die europäischen Eliten gingen daran, ihn durch Einbindung in einen neuen, grösseren europäischen Verband zu schwächen. Es entstanden die Europäische Gemeinschaft und später die Union. Die „Finalität“ dieses supranationalen Systems wurde nie geklärt, so dass es für jeden als Projektionsfläche seiner Wünsche dienen konnte und kann. Die einen wollen starke Vereinigte Staaten von Europa, die mit den andern Grossmächten auf Augenhöhe stehen, die andern ein liebliches Europa der Regionen, welches sich aus der Weltgeschichte abmeldet. Die dritten träumen von einem postnationalen, demokratischen Europa der Bürger. Und den vierten genügt ein gut funktionierender Binnenmarkt. Zweifellos ist es gelungen, den früheren Nationalstaaten einige Zähne zu ziehen, doch dies um den Preis der Einbindung in ein politisches System, von dem niemand so recht weiss, wozu es gut sein soll. Den Eliten gefällt’s, denn es verschafft ihnen neue Handlungsmöglichkeiten, die Bürger bleiben eher auf Distanz. Die EU ist eine bürokratische Grossorganisation mit einer fast unheimlichen Eigendynamik geworden.

Und da macht nun die Schweiz nicht mit und wird damit einmal mehr zur Aussenseiterin in Europa. Das hat viele Gründe. Einmal mussten dieser Nation keine aggressiven Zähne gezogen werden, denn zumindest militärisch hatte sie sei einigen hundert Jahren niemandem mehr ein Leids getan. Dann ist den Eidgenossen Grösse und Einheitlichkeit zuwider, sie sehen sich als Hort des Kleinteiligen und der Diversität. Wo in Europa Eliten den Ton angeben, hält in der Schweiz das Volk das politische Personal am kurzen Zügel. Auch benötigt das Land keinen Anker für seinen Zusammenhalt und seine politische Stabilität, denn beide stehen nicht in Frage. Auch auf Transfers zur Sanierung der Staatsfinanzen ist man Bern nicht angewiesen. Ausserdem hält die Schweiz nichts davon, in der Welt eine wichtige Rolle zu spielen, es reicht ihr, wenn sie mit allen Geschäfte machen kann. Und sie sehnt sich nicht nach einem postnationalen Europa – denn eine Nation war sie eigentlich nie!

Und trotzdem heisst nun das Landesmuseum Nationalmuseum und die Landesbibliothek Nationalbibliothek. Warum eigentlich? Und wer hat das beschlossen?