erschienen in: Patrik Schellenbauer und Daniel Müller-Jentsch: Der strapazierte Mittelstand. Avenir suisse, Verlag NZZ, 2012, S. 241-253

Mittelschicht, Bürgersinn und Staat

Die Schweiz ist das Land des Mittelmasses, des mittleren Masses. Herausragen dürfen hier nur die Berge. Die Mittelschicht ist, wie immer man sie definiert, sehr breit. Nirgends wo sonst prägen die (Klein-) Bürger die Gesellschaft so stark wie zwischen Alpen und Jura. Der Arbeiter – im Sinne des klassenbewussten „Büezers“ – ist fast ganz verschwunden, und auch die eingewanderten Industriearbeiter passten sich dem kleinbürgerlichen Leben rasch an. Obere Einkommensschichten gibt es natürlich, doch keinen grossbürgerlichen Habitus. Understatement gehört zum guten Ton: mehr Sein als Scheinen. Die Intellektuellen stammen grösstenteils ebenfalls aus dem Kleinbürgertum und die meisten legen keinen besonderen Wert darauf, sich von ihm abzugrenzen. Kleine und mittlere Betriebe prägen die Schweiz, und das „klein und mittel“ hat einen besonders warmen, ja anheimelnden Klang. Keine politische Partei würde es wagen, nicht für die KMU zu sein. Unter den Staaten versteht sich die Schweiz selbst als KMU!

Diese Kultur spiegelt sich auch in der Politik: Die Schweiz ist der (Klein-) Bürgerstaat par excellence. In kaum einem Land ist die Bürgerbeteiligung am Staat so intensiv wie hier, die Bürger sind der Staat. Dies garantiert nicht nur die direkte Demokratie auf allen Ebenen, sondern auch das Milizsystem, die nebenamtliche Wahrnehmung verschiedenster politischer Ämter von der Gemeinde über den Kanton bis zum Bund. Selbst die Bundesparlamentarier üben neben ihrem Mandat noch einen Beruf aus. Eine politische Elite, die sich von der Bevölkerung abheben würde, gibt es nicht. Die Staatsangestellten sind nicht Absolventen irgendwelcher „Grandes écoles“, sie stammen vielmehr aus den verschiedensten Berufen. Alle Parteien rekrutieren sich aus dem Mittelstand und unterscheiden sich deshalb in ihren Ausrichtungen weniger deutlich als in andern Ländern – jedenfalls soweit es nicht um Parteiprogramme sondern um praktische Politik geht. Diese Verankerung der Politik in der Bürgergesellschaft ist die eigentliche Basis der eidgenössischen Kompromiss- und Konsenskultur, oder war es jedenfalls bis vor kurzem.

Dieses Buch geht Veränderungen in der Mittelschicht nach und kommt zum Schluss, dass sie in der Schweiz weniger dramatisch verlaufen als in andern Ländern. Trotzdem stellt sich die Frage, ob die festgestellten Verschiebungen Auswirkungen auf die Politik haben und wenn ja, welche. Dies generell zu beantworten ist jedoch schwierig – eben weil die Veränderungen gering sind und weil sich auch viele andere Faktoren auf die Politik auswirken. So haben etwa die grossen Ideologien an Orientierungskraft eingebüsst, was die früher feste Parteienbindung lockert. Die massenmediale Demokratie führt zur Personalisierung und Skandalisierung der Politik. Die erhöhte berufliche und räumliche Mobilität nagt am personalen Fundament der Gemeinden. Die Globalisierung führt zu einer Verunsicherung der Bevölkerung, was populistischen Parteien Auftrieb gibt. Für solche Phänomene sind jedoch sozioökonomische Veränderungen in der Mittelschicht nicht ursächlich.

Und trotzdem: Es gibt wohl schon einige Veränderungen in der ökonomischen Basis und in der Zusammensetzung des Bürgertums, welche sich in der Politik niederschlagen – nur eben nicht in einer direkten und massiven Weise. Mit quantitativen Methoden dürfte sich dieser Zusammenhang kaum ermitteln lassen. Wir wählen deswegen einen biographischen Ansatz, indem wir den (Ideal-) Typus eines Bürgers beschreiben, der in der Nachkriegszeit noch häufig vorkam, inzwischen aber zu den aussterbenden Arten gehört. Es handelt sich um den kleinen Selbständigen, welcher gleichermassen Citoyen und Bourgeois war. Zufälligerweise wird dieser Typus vom Vater des Autors repräsentiert.

 

Paul Freiburghaus – ein Nachruf

 

Mein Vater wurde 1912 geboren – im Jahr des Untergangs der Titanic, wie er gelegentlich erwähnte. Seine Vorfahren stammten aus dem Weiler Freiburghaus in der Gemeinde Neuenegg, wohnten aber schon seit Generationen in Laupen. Sein Grossvater – mein Urgrossvater – war Jurist und Gerichtspräsident gewesen, verstarb aber früh und hinterliess zehn Kinder. Sein Vater musste also bald Geld verdienen, machte eine Eisenhändlerlehre und übernahm eine bestehende Eisenwarenhandlung in Laupen, die vom Warensortiment her aber einem kleinen Warenhaus glich. Er heiratete die Tochter eines Weinhändlers aus Bern und baute für sie eine schöne kleine Villa.

Da wuchs mein Vater Paul neben drei Schwestern auf. Er war ein unternehmungslustiger junger Mann. Er baute ein Zelt und ein Faltboot, fuhr mit dem Velo nach Budapest und Neapel, malte Porzellan, fotografierte und entwickelte und vergrösserte die Bilder selbst. Er hätte gerne Geologie oder Archäologie studiert – und hatte wohl auch das Zeug dazu. Doch die Zeiten wurden schlecht, eine Handelsschule in Neuenburg musste reichen. Dann machte er die Eisenhändlerlehre bei Christen in Bern. Meine Mutter war die Tochter des Schlossermeisters Ernst Klopfstein aus Laupen, Heimatort Laupen. Als junger Mann war Ernst Sozialist gewesen, nach dem Ersten Weltkrieg ging er auf die Strasse, nach dem Zweiten besass er eins der ersten Autos im Städtchen und beschäftigte in seiner Werkstatt fünf Arbeiter. Meine Mutter Hedi machte eine kaufmännische Lehre bei der Firma Kiener&Wittlin Eisenwaren in Bern. Die beiden kannten sich schon von der Schule und kamen sich beim Eislaufen auf dem Entenweiher näher. 1938 heirateten sie und übernahmen mitten im Krieg, als mein Grossvater starb, die Eisenhandlung in Laupen. Die Geschäfte liefen nicht sehr gut, und drei Kinder kamen zur Welt.

Mein Vater war bei der Infanterie; er wurde Hauptmann und war während des Krieges oft an der Front oder im Gebirge. Die Mutter und ein Angestellter führten das Geschäft, welches die Familie auf bescheidenem Niveau ernährte. Auch nach dem Krieg diente Paul mit Überzeugung dem Vaterland als Kompaniekommandant. Unsere Sonntagsauflüge dienten oft der Rekognoszierung des nächsten Wiederholungskurses. Er war zudem Sektionschef in Laupen und wurde später Alpinoffizier einer Brigade. Dass sein ältester Sohn auch Offizier wurde, verstand sich damals von selbst. Der schon weisshaarige Hauptmann und der junge Leutnant trafen sich einmal per Zufall auf einer Alpweite im Berner Oberland. Es war Kalter Krieg.

Nach dem Ende des Weltkriegs ging es wirtschaftlich aufwärts, auch mit der Eisenwarenhandlung Paul Freiburghaus. Das Geschäft wurde mehrmals umgebaut und vergrössert. Dort, wo man bisher die Pferde angebunden hatte, waren nun Autoparkplätze. Alle kauften bei uns ein: die Handwerker, die Bauern, die Wirte, die Hausfrauen. Der Laden war ein Treffpunkt für die Bewohner des Städtchens und der umliegenden Bauerndörfer. Wir hatten alles, was man brauchte, Nägeln, Schauben, Bohrmaschinen, Schwarzpulver, Glühbirnen, Schmierfett, Fensterglas, Meccano, Stahlwolle und Porzellan. Mein Vater schätze das Warensortiment auf 10'000 Artikel. Die Mutter betreute die Haushaltabteilung. Zum Angestellten kam ein Lehrling, meist ein guter Sekundarschüler, denn die kaufmännische Lehrstelle bei Freiburghaus war begehrt. Die Ladentüre wurde um sieben Uhr früh geöffnet und um sieben Uhr abends geschlossen. Wir wohnten über dem Geschäft, und wenn jemand am Abend oder am Sonntag dringend eine Sicherung oder eine Flasche Gas brauchte, dann klingelte er an der Wohnungstüre. In unserer Werkstatt wurden Fensterscheiben ersetzt, Kinderwagen repariert und Skibindungen montiert. Wir Kinder arbeiteten schon früh im Laden mit und lernten mit Kunden, Werkzeugen und Geld umzugehen. Man arbeitete viel, die Freizeit war knapp. Sommerferien verbrachten wir entweder mit der Mutter oder dem Vater, denn das Geschäft blieb immer offen. Im Sommer brauchten die Frauen Einmachgläser. Mein Vater lehnte die Fünftagewoche ab, denn er war der Meinung, die Leute wüssten mit der gewonnenen Zeit nichts Vernünftiges anzufangen.

Paul musste die meisten seiner früheren Hobbys wegen der Arbeitsbelastung aufgeben. Doch zwei blieben: Bergsport und Bauen. Irgendein Projekt war immer am Laufen. Das Geschäft breitete sich schrittweise auf das ganze Haus aus. Anfang der fünfziger Jahre war die Bautätigkeit in Laupen noch flau. Da ergriff Paul die Initiative und erstellte zweimal fünf aneinander gebaute kleine Einfamilienhäuser, die er selbst entworfen hatte. Seine Überlegung war, dass, wenn gebaut wurde, die Handwerker mehr bei uns einkauften. Die Rechnung ging auf. Ich staune aber noch heute darüber, wie er es gewagt hatte, sich erst einmal kräftig zu verschulden. Später baute er ein Weekendhaus und, als meine Schwester und ihr Mann das Geschäft übernahmen, zuerst ein Haus für sie und dann eins für sich und seine Frau. Er kannte aus dem Militärdienst einen Architekten, der damals gross im Kommen war. Dieser erkannte die Fähigkeiten seines Kameraden und bot ihm an, in sein Büro einzusteigen. Mein Vater rang mit sich, aber die Selbständigkeit ging im über alles.

Er war natürlich der Typus des „ehrlichen Kaufmanns“. Aktionen und Sonderrabatte lehnte er ab, denn seine Preise waren seriös kalkuliert. Der Kunde war König, ohne Ansehen der Person, des Standes und der Konfession. Laupen liegt an der Grenze zum Kanton Freiburg, und mein Vater verabscheute „die schwarzen Kutten“ zutiefst. Doch zu den Kunden jenseits der Sense unterhielt man freundschaftliche Beziehungen. Wenn sich jedoch nach Auffassung meines Vaters ein Kunde nicht „anständig“ verhielt – indem er etwa zu Unrecht die Qualität der Ware oder den Preis bemängelte –, dann bat er ihn, den Laden nicht mehr zu betreten. Wir kauften das Brot abwechslungsweise bei allen vier Bäckereien ein, denn alle waren Kunden. Welches davon besser schmeckte, war kein Kriterium. Ins Konsum ging man nicht, und eine Migros konnte verhindert werden. Einmal kam ein gut gewandeter Herr von den Bernischen Kraftwerken in den Laden. Die BKW bauten damals das Atomkraftwerk Mühleberg und waren auf den Goodwill der Bevölkerung angewiesen. Der Herr bestellte eine Mikrometerschraube von etwa einem halben Meter Länge! Natürlich führt keine ländliche Eisenwarenhandlung ein solch kostbares Gerät, aber man konnte es bestellen und liefern. Noch lange danach hatte mein Vater Gewissensbisse, dass er sich auf diesen Deal eingelassen hatte. „Anständig“ war für ihn überhaupt ein moralischer Schlüsselbegriff, und erst viel später merkte ich, dass er tatsächlich brauchbar ist: der zivilisierte Umgang der Menschen untereinander, welcher eine freie Gesellschaft erst möglich macht.

Paul Freiburghaus war ein aktiver Bürger, Mitglied der FDP. Zu dieser Partei gehörten in Laupen die drei Fabrikbesitzer, einige KMU-Chefs, mehrheitlich die Freiberufler und höhere Angestellte. Damals warb diese Partei noch nicht mit dem Slogan „Weniger Staat – mehr Selbstverantwortung“. Aber es war dieser Geist, der meinem Vater zusagte. Dass in diesem Berner Landstädtchen die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei vorherrschte, versteht sich von selbst. Doch auch die Sozialdemokraten hatten seit der bescheidenen Industrialisierung einen festen Anteil an der Wählerschaft. Mein Vater diskutierte gerne mit der Kundschaft über Politik, auch wenn im Büro „zehn Gebote des Verkäufers“ hingen, die gerade dies verboten. Aber er war eben der Chef, und wenn die Diskussion substantieller wurde, zog er sich mit seinem Gesprächspartner in unser Wohnzimmer zurück.

Höhere politische Ämter, gar eine Parteikarriere, strebte Paul Freiburghaus nicht an, denn er stand nicht gerne im Rampenlicht. Er diente jedoch der Gemeinde in verschiedenen Kommissionen und war während vieler Jahre Kommandant der Laupener Feuerwehr. Dies hat uns Kindern manche unruhige Nacht beschert, aber dafür waren wir am Morgen in der Schule gefragte Auskunftspersonen. Mein Vater ging regelmässig an die Gemeindeversammlungen, und ich ging als Zuhörer schon früh mit. Er ergriff nicht bei jeder Gelegenheit das Wort, aber wenn, dann sprach er deutsch und deutlich. Es gab einmal einen heftigen Streit in der Gemeinde: Sollte eines der ältesten Wohnhäuser im Kanton Bern – der Freienhof – gekauft und saniert oder sollte ein Schwimmbad gebaut werden? Emotional neigte mein Vater zum Denkmalschutz, aber er votierte für das Schwimmbad – im Interesse der Jugend. Ein andermal ging es darum, eine verdiente Lehrerin, die aber kaum mehr in der Lage war, ihren Beruf auszuüben – ich war in ihrer Klasse – frühzeitig zu pensionieren. Wiederum ein Dilemma für meinen Vater, wiederum der Entscheid für die Kinder. Oft gerieten die Interessen des Kaufmanns und diejenigen des Staatsbürgers Paul Freiburghaus in Konflikt: Mein Vorteil oder das Gemeinwohl? Wir Kinder kriegten sein Werweisen mit, und mal siegte der eine, mal der andere Aspekt. Schule der direkten Demokratie.

Der Vater las den „Bund“ und hörte regelmässig Nachrichten und „Echo der Zeit“. Da hiess es für uns stille sitzen und zuhören. Er kommentierte die Weltlage in derselben abwägenden Weise wie die Gemeindepolitik. Was wir nicht verstanden, erklärte er uns. Ein Globus, ein Atlas und ein Lexikon waren immer zu Hand. Auch die sechs Bände von Churchills Zweitem Weltkrieg las ich schon früh. Eine andere Figur, die mein Vater bewunderte, war Mustafa Kemal, genannt Atatürk: Dass eine so starke Persönlichkeit ein Land umkrempelt und nicht zum Diktator wird, das hat ihn beeindruckt. Seit seiner Jugend war er Italien zugetan, sprach auch recht gut Italienisch. Wir zelteten in Marina di Ravenna und lernten byzantinische Kunst kennen – aber auch Wassermelonen und Gelati. Die frühen italienischen Gastarbeiter – Familienväter, die auf dem Bau arbeiteten, um ihre Familien zu ernähren – wurden mit grossem Respekt behandelt. Trotz der hohen Belastung durch das Geschäft, die Bauerei, die Armee und Gemeinde machten Vater und Mutter immer wieder Reisen – zuerst in Europa, später in andere Erdteile. Er wollte sich einen eigenen Eindruck verschaffen. Die Märkte interessierten ihn mehr als die Sehenswürdigkeiten. 1961 waren Japan und Südostasien an der Reihe. Die Eltern waren während sechs Wochen weg, und meine Schwester und ich – Gymnasiast – führten das Geschäft. Früh übt sich...

Selbstverantwortung, dies galt auch für die Nachbarschaft. Wir wohnten mitten im Städtchen und kriegten Spannungen und Streit zwischen den Nachbarn mit. Da ging es gelegentlich recht heftig zu und her. Man holte aber nicht gleich die Polizei, sondern öfter ging mein Vater dazwischen und versuchte zu schlichten. Wir konnten mit allen Kindern spielen, auch mit denen aus den „einfachen“ Familien. Gerade sie konnten uns Buben interessante Dinge beibringen: Pfeilbogen basteln, Fischen, durch die Auenwälder streifen. Gewisse ihrer Verhaltens- und Ausdrucksweisen waren aber zuhause nicht zugelassen! Ich staune heute noch über die Toleranz meines Vaters in Bezug auf manche unserer Taten und Untaten. Er hatte wohl seine Jugend nicht vergessen.

Eine widerspruchsvolle Mischung, dieser Mann: Lokal tief verwurzelt, aber offen für das Weltgeschehen; konservativ in Bezug auf Arbeit und Anstand, den Kindern aber die Freiheiten lassend, welche sie zu ihrer Entwicklung brauchten; sparsam im Konsumieren, grosszügig im Investieren; ein tüchtiger Kaufmann und ein engagierter Citoyen. 1994 ist mein Vater gestorben. Seine Kinder wurden Lehrerin, Schauspieler und Wissenschaftler.

 

Zum gesellschaftlichen Wandel des Mittelstands

 

Dieser Bürgertypus ist selten geworden, und dafür gibt es viele Gründe. Der Familienbetrieb ist aus der Mode gekommen, viele kleine Selbständige sind verschwunden. Die existierenden KMU, aber auch die Freiberufler, stehen unter hohem Leistungsdruck, was es ihrem Chef oder ihrer Chefin meist verunmöglicht, in grösserem Masse öffentliche Aufgaben zu übernehmen. Die Grossbetriebe werden in der Regel nicht mehr von ihren Besitzern geleitet, sondern von angestellten Managern ohne Bindung an Ort und Kultur. Die Aktionäre sind immer häufiger Börsianer und fühlen sich für die konkreten Aktivitäten „ihrer“ Unternehmen kaum mehr verantwortlich. In dieselbe Richtung wirken kulturelle Veränderungen: Hedonismus und Freizeitgesellschaft reduzieren die Bereitschaft für öffentliches Engagement. Berufliche und geographische Mobilität lösen Bindungen auf. Die sogenannte Selbstverwirklichung im Selbstbedienungsladen der ideologischen Moden verdrängt den Gemeinsinn. Personalisierung und Skandalisierung der Politik führen dazu, dass viele fähige Bürger die Hände davon lassen. Das ist nicht nur in der Schweiz so, aber vielleicht ist dieser Verlust für unser politisches System gravierender als für andere, die sich auf Berufspolitiker und Grossadministrationen verlassen.

Die moderne Schweiz wurde vom Bürgertum geschaffen, von denjenigen, die durch Tüchtigkeit und Verzicht, Klugheit und Zähigkeit zu Geld gekommen waren und dieses einsetzen, um ein Gewerbe zu betreiben. Sie übernahmen das politische System und formten es nach ihren Bedürfnissen um. Im Zentrum standen Ruhe, Ordnung, Rechtsstaatlichkeit und ein Staat, der ihnen möglichst viele wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten liess. Ob ihr Unternehmen klein oder gross war – sie zogen politisch weitgehend am selben Strick. Dabei waren es die kleinen und mittleren Selbständigen, die im Volk schwammen wie die Fischer im Wasser und so liberale Auffassungen unter die Leute brachten. Wirksam war dies vor allem dann, wenn diese Leute persönlich glaubwürdig und politische engagiert waren. Insofern bildeten sie das Fundament des liberalen Staates. Die weite Verbreitung des Bourgeois/Citoyen ermöglichte einen Staatsaufbau von unten nach oben und erlaubte es, die direkte Demokratie immer weiter auszubauen.

Ein wichtiges Element ist dabei die Milizorganisation. Ein Milizheer ist ein Bürgerheer im Gegensatz zu einer bezahlten und professionellen Söldnerarmee. Die Schweizer übertrugen diese Organisationsform auf die Politik. Die Kleingemeinden wurden bis vor kurzem fast ausschliesslich von Milizpolitikern geleitet und verwaltet. Mitglieder kantonaler Regierungen und Bundesparlamentarier übten ihre Funktion oft neben dem angestammten Beruf aus. Der von uns beschriebene Bürgertypus war der Hauptakteur dieses Systems, und sein Verschwinden lässt die Miliz als leere Hülle zurück. Den Gemeinden fehlen qualifizierte Exekutiv- und Kommissionsmitglieder. Sie müssen sich deshalb zusammenschliessen und eine professionelle Administration aufbauen. Damit fällt eine Schranke gegen zu komplizierte Gesetze. Kantonsregierungen werden verkleinert und auf Vollämter umgestellt. Zwar sind die Bundesparlamentarier nach wie vor nicht für einen ganzen Job bezahlt, aber indem sie als Stadtpräsidenten, Verbandskader und Parteisekretäre tätig sind, wird Politik zu ihrem Beruf, wird die politische Karriere zu ihrem Ziel. Allmählich entsteht eine eigenständige politische Kaste. Die Erfahrungen, die Menschen ausserhalb des politischen Systems machen, fliessen nicht mehr direkt in die Staatshaltung ein. Ein schlanker Staat ist für die meisten Politiker nicht mehr ein Ziel, denn mehr Staat heisst für sie mehr Handlungs- und Aufstiegsmöglichkeiten.

Man sagt, die Gemeinde sei das Fundament der Schweiz, und das stimmt sicher insofern, als in den Gemeinden Politik eingeübt wird. Der Bürger und die Bürgerin können im überschaubaren Bereich lernen, was es heisst, politische Verantwortung zu tragen – sei es in einem Amt oder in einer Sachabstimmung. Sie sehen die Konsequenzen ihrer Entscheidungen und lernen, zwischen ihren persönlichen Interessen und dem Gemeinwohl abzuwägen. Sie merken, dass Einnahmen und Ausgaben wie zu Hause im Lot sein müssen. So kommt Pragmatismus und gesunder Menschenverstand in die Politik. Wenn nun aber die Träger dieser Art von Gemeindepolitik immer seltener werden, zugleich die geographische Mobilität zunimmt und Erwerbs- und Wohnort schon systematisch auseinander fallen, dann wird auch dieses Fundament des schweizerischen Staatswesens geschwächt.

Ein bestimmter Persönlichkeitstypus ist also rar geworden: Der Bürger, der sich zu den nahen und fernen Angelegenheiten dieser Welt ein eigenes Urteil bildete. Dazu nahm er einen beträchtlichen Aufwand für Informationsbeschaffung und Auseinandersetzung in Kauf. Die wirtschaftliche Selbständigkeit erlaubte ihm dies in materieller und ideeller Hinsicht. Er bildete so einen Prellbock gegen modische Massenströmungen und die Arroganz administrativer Wissensanmassung.

Diese Veränderungen betreffen also die dreistufige Staatsstruktur, das Milizwesen und auch die direkte Demokratie. Sie unterminieren die Gemeinden, führen zu einer Pseudomiliz und machen die Bürgerinnen und Bürger für populistische Kampagnen anfällig. Am meisten aber leidet das liberale Fundament dieses Staates. Die liberale Haltung gibt es zwar weiterhin, aber sie zieht sich auf Bevölkerungsgruppen zurück, welche mit dem Mann und der Frau von der Strasse nicht mehr auf vertrautem Fuss stehen. Liberalismus kann dann leichter als Neoliberalismus verschrien werden, die Neidgesellschaft macht sich breit, und Geld vom Staat zu erhalten, wird für immer mehr Menschen eine Tatsache und ein Ziel. Dass hieran auch die Gier und der „fehlende Anstand“ einer neuen Geldoberschicht einen grossen Anteil haben, ist nicht zu bestreiten, aber das Desengagement der bürgerlichen Leistungsklasse aus der Politik hat eben diese Geldoberschicht auch erst ermöglicht. Es ist offensichtlich, dass der Niedergang der freisinnig-demokratischen Partei damit zusammenhängt. Eine Partei, die nicht mehr mit dem Slogan „Weniger Staat, mehr Selbstverantwortung“ werben kann oder will, sondern die man „Aus Liebe zur Schweiz“ wählen soll, verschwindet folgerichtig im Bermudadreieck der „politischen Mitte“.

Trotz des hier beschriebenen gesellschaftlichen Wandels, hat sich die Schweiz bis heute wichtige Besonderheiten bewahrt. Wenn man sich die Leistung unseres Landes in den vergangenen Krisenjahren anschaut, gibt es durchaus auch Anlass zum Optimismus. Und das wohl vor allem deshalb, weil ihre Bürgerinnen und Bürger weiterhin arbeitsam sind, nicht alles vom Staat erwarten und der Wirtschaft Spielräume lassen. Der reine Liberale mag zwar manches in diesem Land bekritteln, doch offenbar ist hier eine Grundhaltung der Selbstverantwortung mit der Solidarität eine Verbindung eingegangen, welche sich in stürmischen Zeiten als robust erweist. Der Bürgersinn des Mittelstands besteht trotz gewisser Erosionserscheinungen bis heute fort – und ihm verdankt die Schweiz viele ihrer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften.