Kantonales Kaderseminar der SVP vom 7. September 2012 in Langenthal

Das Verhältnis Schweiz – EU: Ausgangslage und Beurteilung der Optionen der Schweiz

Das Verhältnis der Schweiz zur EU ist kompliziert. Eine Möglichkeit, es zu begreifen, ist, seine Entstehung nachzuzeichnen. Damit werde ich beginnen. Dann analysiere ich die gegenwärtigen, etwas vertrackten Beziehungen. Bevor ich abschliessend einiges zu den Optionen der Schweiz sage, werde ich erläutern, wie ich Lage und Zukunft der EU einschätze.

 

Kurze Geschichte der schweizerischen Europapolitik

Bis 1991 wollte die Schweiz der EU – oder früher der EWG – nie beitreten. „Wollte die Schweiz“ will sagen, es gab keine wichtigen politischen Kräfte, die einen Beitritt anstrebten. Was jedoch die Schweiz ständig und mit Energie versuchte, war, wirtschaftliche Nachteile, die sich aus der europäischen Integration ergaben, zu vermeiden. Dazu wandte sie verschiedene Methoden an:

  • Sie passte sich eigenständig an (etwa indem sie technische Normen der EU übernahm).
  • Sie ergriff „Gegenoffensiven“ (etwa mit der Gründung der EFTA).
  • Sie wurde in umfassenden Wirtschaftsorganisationen tätig (etwa im Gatt).
  • Sie schloss mit der EG Verträge ab (etwa das Freihandelsabkommen von 1972).

Warum übrigens ergeben sich aus dem Zusammenschluss einiger Staaten Nachteile für einen Dritten? Klar ist dies, wenn die andern sich bewusst abschotten, etwa höhere Zölle erheben. Dies war bei der EWG nicht der Fall. Aber selbst wenn etwa Zölle oder andere Schranken nach aussen nicht erhöht werden, entsteht eine Benachteiligung Dritter, und zwar deswegen, weil den Mitglieder des Verbandes Vorteile eingeräumt werden. Die Ökonomen sprechen von Handelsumlenkung. Dies ist zwar ökonomische nicht effizient, aber solche Zusammenschlüsse entstehen ja meist auch aus politischen Gründen. So war es auch bei der EWG, die am Anfang nicht viel mehr als eine Zollunion war. Nun, im Rahmen des Freihandelsabkommens wurden ja auch die Zölle zwischen der Schweiz und der EG abgebaut, doch die Handelsumlenkung gilt nicht nur für Zölle, sondern für jedes Hindernis, von technischen Normen über Diplomzeugnisse bis zu administrativen Hürden. Die Schweiz hatte also durchaus Gründe, sich bei jedem Integrationsschritt zu überlegen, was gegen die Benachteiligung unternommen werden konnte. Was man aber nicht vergessen sollte: Handelshindernisse können auch übersprungen werden, wenn die eigenen Produkte billiger, besser oder innovativer sind als die der Konkurrenten.

Die beiden wichtigsten Ereignisse aus der Vor-1990er-Zeit waren die Gründung der EFTA im Jahre 1960 und das schon erwähnte Freihandelsabkommen mit der EWG von 1972. Letzteres eliminierte Zölle und mengenmässige Beschränkungen für Industriewaren zwischen der Schweiz und der Gemeinschaft. Es wurde damals dem Doppelmehrreferendum unterstellt, alle Kantone sagten Ja und das Volk stimmte mit 72,5% der Stimmen zu. Das waren noch Zeiten! Die restlichen 1970er Jahre waren dann – weltweit, in Europa aber auch in der Schweiz – von Krisen überschattet, der Integrationsprozess kam fast zum Stillstand. Es gab keinen Bedarf für eine stärkere Annäherung der Schweiz an die EG.

Mitte der 1980er Jahre jedoch beschleunigte sich der europäische Integrationsprozess durch die Lancierung und den erfolgreichen Verlauf des Binnenmarktprogramms. In den EFTA-Staaten ging die Sorge um, dies würde erneut zu wirtschaftlicher Diskriminierung führen, diesmal wegen des Abbaus der nichttarifären Hindernisse. Das sind tausende von Normen und Prozeduren, welche die ganze Wirtschaft durchdringen. Zum Teil sind sie notwendig, um die Menschen zu schützen, oft aber werden sie in protektionistischer Absicht eingeführt oder gebraucht.

Deshalb, und weil im Osten der Umbruch begann, erwogen einige EFTA-Länder den Beitritt, was jedoch der EG nicht passte, denn sie wollte zuerst weitere Integrationsschritte machen. Aus diesem Grunde lancierte der Kommissionspräsident Jacques Delors 1989 die Idee, einen Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zwischen der EG und der EFTA zu realisieren, in welchem „binnenmarktähnliche Verhältnisse“ herrschen sollten. Als er dann noch von „gemeinsamen Entscheidungs- und Verwaltungsorganen“ sprach, meinen auch bei uns manche, nun wäre das Ei des Kolumbus gefunden. Die Schweiz stieg also in die Verhandlungen ein.

Materiell wurde man sich bald einig: Binnenmarkt Ja, Landwirtschaft und Fischerei Nein, Wettbewerbspolitik Ja, Währungsfragen Nein, flankierende Politiken Ja (Umwelt, Konsumentenschutz, Arbeitsrecht), gemeinsame Handelspolitik Nein. Soweit konnte die Schweiz zufrieden sein. Institutionell jedoch gingen die Vorstellungen weit auseinander. Von gemeinsamen Entscheidungs- und Verwaltungsorganen war bald keine Rede mehr, die EFTA musste mit einer Stimme sprechen und eigene Organe für die Überwachung und die Rechtsprechung einrichten. Dies bedeutete eine Supranationalisierung der EFTA. Nicht nach dem Geschmack der Schweiz. In den Verhandlungen hat die EFTA eine Position nach der andern geräumt. Dies bewog Österreich und Schweden den Beitritt zur Gemeinschaft anzustreben, was die EFTA-Position in den Verhandlungen weiter schwächte.

Inzwischen hatte sich bei einem grossen Teil der politischen Klasse der Schweiz eine Euro-Euphorie breit gemacht, und viele waren der Ansicht, man sollte beitreten. Der Spruch „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, war noch taufrisch. Der Bundesrat, der von den institutionellen Lösungen im EWR nicht begeistert war, schwenkte auch auf diese Linie ein. Er verkündete im Oktober 1991 im Pressesaal der Kommission in Luxemburg, das Ziel des Bundesrates sei nun der Beitritt, und am 18. Mai 1992, frühmorgens, in einer ausserordentlichen Sitzung, beschloss unsere Regierung mit vier zu drei Stimmen, ein Gesuch um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu stellen. Dafür waren die Bundesräte Felber (SP), Delamuraz (FDP), Ogi (SVP) und Cotti (CVP), dagegen Stich (SP), Koller (CVP) und Villiger (FDP). Es ist schier unglaublich, dass ein so schicksalsschwerer Entscheid mit der knappstmöglichen Mehrheit gefällt wurde und man sich angesichts dieses Stimmenverhältnisses nicht noch einmal Zeit zum Nachdenken gab. Es hatten auch nicht die üblichen Konsultationen stattgefunden. Manche sprechen vom schwerwiegendsten Fehlentscheid der Landesregierung seit dem Zweiten Weltkrieg.

Dies gab dem EWR den Todesstoss, wenn wer den Beitritt nicht wollte, wollte auch nicht ins Ogi’sche Trainingslager, und wer ihn wollte, wollte ihn ohne EWR-Umwege. am 6. Dezember 1992 lehnten Volk und Stände den EWR-Vertrag ab (die Kantone kräftig mit 16 zu 7, das Volk knapp mit 50,3% Nein). Dabei hätte es auch bleiben können, denn das Freihandelsabkommen von 1972, einige weitere bilaterale Verträge und die WTO-Regeln gewährten einen zwar nicht hindernisfreien, aber doch gesicherten Zugang zum EG-Binnenmarkt. Die Schweiz unterhält ja auch gute Wirtschaftsbeziehungen zu Staaten, mit denen sie höchstens Freihandelsabkommen abgeschlossen hat. Überdies hatten die Gutachten von Professor Hauser 1991 gezeigt, dass die Schweiz durch innere Liberalisierungen ähnlich gute Resultate wie mit dem EWR erzielen konnte.

Doch der Bundesrat hat damals anders entschieden. Er hat schon zwei Monate nach dem EWR-Nein an die EG das Begehren gerichtet, nun über bilaterale sektorielle Abkommen Zugang zum Binnenmarkt zu erhalten – ohne den unangenehmen institutionellen Überbau und die quasi automatische Rechtsübernahme. Die Personenfreizügigkeit und der Landverkehr standen nicht auf der Wunschliste. Die EU hat lange gezögert und dann ein Siebenerpaket zusammengestellt, welches eben diese beiden Dossiers enthielt und so erst aus ihrer Sicht materiell ausgewogen war. Sie war vorläufig bereit, mit statischen Verträgen und gemischten Ausschüssen zu arbeiten, also ohne supranationalen institutionellen Überbau. Das tat sie, weil sie damals das bundesrätliche Beitrittsgesuch noch ernst nahm und also mit einem baldigen Beitritt rechnete.

Mit diesem ersten Paket von Abkommen hätten wohl beide Seiten für längere Zeit leben können. Doch nein, noch bevor die Abkommen in Kraft getreten waren, stellte der Bundesrat weitere Forderungen nach Marktzugang und Teilnahme an diversen EU-Aktivitäten. Zwecks Ausbalancierung kam die EU mit zwei unangenehmen Gegenforderungen – Betrugsbekämpfung und Zinsbesteuerung –, worauf die Schweiz Zugang zu Schengen forderte und erhielt. Auch hier, nach den Bilateralen II, hätte man wohl wiederum für eine Weile stehen bleiben können. Doch die Schweiz stellte weitere Forderungen nach Zusammenarbeit und Markzugang, inzwischen wiederum etwa zehn: Von Agrarfreihandel bis zur Elektrizität, von der Chemiesicherheit bis zur Zusammenarbeit bei der Rüstungsbeschaffung.

Die Schweiz gibt also seit zwanzig Jahren der EU immer dasselbe Zeichen: Wir können gar nicht genug kriegen! Schon im ersten Paket hat sie die schwierigen Dossiers Personenfreizügigkeit und Landverkehr geschluckt, mit Haut und Haaren. Und beim zweiten zeigte sie, dass sie nicht nur Markzugang wollte, sondern auch, mit Schengen und Dublin, eine Übernahme von EU-Recht in höchst sensiblen Bereichen: Polizei und Justiz, Grenzschutz und Asylwesen.

Dieser sektorale Bilateralismus war nie als eigenständige Strategie entworfen und durchdacht worden, sondern er bildete am Anfang eine Ersatzhandlung für das Scheitern des EWR. Man hat sich dabei kaum gefragt, welche längerfristigen Konsequenzen es haben konnte, wenn man von der EU immer weitere Abkommen, eine immer umfassendere Marktintegration forderte – und erhielt, und darüber hinaus an immer mehr Politiken teilhaben wollte. Eine Nutzen-Kosten-Abschätzung in jedem Einzelfall unterblieb. Man hat sich ins Getümmel der rasch fortschreitenden Integration gestürzt, ohne sich zu fragen, wie man allenfalls wieder hinauskäme. Erst als dieses Vorgehen von einigem Erfolg gekrönt war, wurde es zur Strategie der „bewährten Bilateralen“ umgedeutet. Und nun sagte die EU, so geht das nicht weiter, ihr könnt nicht zu drei Vierteln an unseren Aktivitäten teilnehmen, weglassen, was Euch nicht passt, das Recht so auslegen, wie ihr es für richtig findet und institutionell völlig unabhängig bleiben. Denn damit wäret ihr besser gestellt als unsere Mitgliedstaaten und die EWR-Länder. Wer auf diese Forderung empört oder auch nur erstaunt reagiert, tut dies entweder aus Naivität oder aus taktischem Kalkül.

 

Wo stehen wir heute?

Nun, wo stehen wir heute. Die Beziehungen zu Brüssel sind nicht schlecht, aber sie sind belastet. Es gibt drei Bereiche, die getrennt zu betrachten sind:

  • Abkommen über Zusammenarbeit und Teilnahme an Programmen oder auch an gewissen Agenturen: Forschung, Media, Bildung und Jugend, Statistik, Umweltagentur. Das läuft ziemlich problemlos, weil es hier keiner weitgehenden Rechtsanpassung bedarf.
  • Zugang zum Binnenmarkt im weitesten Sinne, inklusive Personenfreizügigkeit. Da harz es und darauf beziehen sich die institutionellen Forderungen der EU.
  • Alles was mit Steuern zusammenhängt. Da klemmt es.

Zuerst zu Punkt drei, zu den Steuern. Wiederum sind zwei Dinge zu unterscheiden: die kantonale Besteuerung von Spezialgesellschaften und der Frage der Versteuerung ausländischer Vermögen.

Zu den kantonalen Steuern für gewisse Gesellschaften: Die EU betrachtet die ungleich hohe Besteuerung von in- und ausländischen Erträgen als „staatliche Beihilfe“, die nach dem Freihandelsabkommen von 1972 verboten ist, wenn sie zu Wettbewerbsverzerrungen führt. Die Schweiz bestreitet zwar diese Begründung, da dies vom damaligen Abkommen nicht mitgemeint gewesen sei. Die EU sagt: Damals seid ihr aber auch noch nicht Quasi-Mitglied im Binnenmarkt gewesen. Und es ist niemand da, der diesen Streit beenden könnte.

Lange hat die Schweiz die übliche Taktik der Nichtzurkenntnisnahme und Verzögerung angewandt. Seit man aber in Brüssel von „Ausgleichsmassnahmen“ spricht, bewegt sich der Bundesrat. Die Forderung, die ungleiche Belastung abzuschaffen, hat er eigentlich schon akzeptiert. Man kann entweder die höhere Belastung senken – das führt zu Steuerausfällen –, oder die niedrigere erhöhen – das kann zur Abwanderung solcher Gesellschaften führen. Also irgendwo dazwischen. Die Lösung wird dadurch erschwert, dass die nötigen Anpassungen die Kantone sehr unterschiedlich betreffen. Damit kommen der Föderalismus allgemein und der Finanzausgleich im Besonderen ins Spiel. Und nun soll das Problem im Rahmen einer Unternehmenssteuerreform III angegangen werden, das heisst, es wird sehr schwierig. Der Bundesrat hat nun eine ganze Projektorganisation eingesetzt, um Lösungen zu erarbeiten. Für einige Zeit wird die EU still halten, da sie sieht, dass der Bundesrat den Ernst der Sache begriffen hat.

Nun zur Besteuerung oder Nichtbesteuerung von Vermögen von Ausländern in der Schweiz. Das ist bekanntlich „eine ganz grosse Kiste“, denn auch die USA, die OECD und viele Staaten üben hier auf die Schweiz Druck aus. Vor einigen Jahren hatte man uns gesagt, dass mit dem Zinsbesteuerungsabkommen von 2005 „der Friede für unsere Zeit“ zwischen der EU und der Schweiz gesichert sei. Das Abkommen besteht noch und funktioniert, und die EU möchte es auf weitere Tatbestände ausdehnen. Die Schweiz ist nicht dagegen. Doch Brüssel macht immer wieder deutlich, dass das Ziel der automatische Datenaustausch ist. Daraufhin hat die Schweiz den Entlastungsangriff mit den bilateralen Steuerabkommen mit Mitgliedstaaten gestartet, der sich ganz gut angelassen hat, aber noch nicht in trockenen Tüchern ist. Unter anderem wegen der SPD. Prognosen sind deswegen so schwierig, weil es hier offenbar nicht mehr in erster Linie um Steuern geht, sondern um den deutschen Wahlkampf, für den der Opposition griffige Themen fehlen.

Das Hauptthema der Europapolitik aber ist, wie gesagt, der Marktzugang. Seit dem Binnenmarktprogramm geht es dabei nicht mehr um Zölle und Mengen, sondern vor allem um technische und administrative Handelshindernisse, also verschiedene Normen in verschiedenen Staaten, die jedem Importeur und Exporteur entgegengehalten werden können. Diese Hindernisse können in der Regel nur beseitigt werden, wenn die Staaten aktiv werden. Letztere können entweder die unterschiedlichen Vorschriften gegenseitig anerkennen oder aber durch gemeinsame und einheitliche Gesetzgebung harmonisieren. Und das hat nun die EU in hunderten oder wohl tausenden von Richtlinien getan. Wenn die Schweiz ohne solche Hindernisse am Binnenmarkt teilnehmen will, dann muss sie dieses Recht wohl oder übel übernehmen, denn es wackelt nun mal nicht der Schwanz mit dem Hund. Das tut ja die Schweiz auch massenhaft, der grösste Teil dieser Vorschriften und Normen ist ja jetzt schon identisch, und täglich kommen neue dazu. Davon merken wir nicht viel, denn das meiste in (schweizerischen Verordnungen geregelt, die vom Bundesrat abgeändert werden können.

Die bisherigen Abkommen waren weitgehend statisch, das heisst die Schweiz übernimmt neues EU-Recht nur dann, wenn es ihr passt; und sie will dieses Recht autonom interpretieren und seine Anwendung selbst überwachen. Eine Grunderfahrung der EU ist aber, dass der Binnenmarkt nur funktioniert, wenn er von supranationalen Instanzen verwaltet wird. Deswegen hat sie ja beim EWR genau dies auch verlangt. Und nun fordert sie dasselbe auch für die Schweiz. Es geht also nicht um irgendwelche neuen Institutionen, sondern um eine dynamische Übernahme und eine supranationale Überwachung. Und das will die Schweiz nicht. Sie hat zuerst die Forderung als unverschämt zurückgewiesen, dann eine Weile Augen, Ohren und den Mund zugehalten, Versprechungen gemacht und nun unlängst einige Ideen dazu in Brüssel deponiert. Diese sind ein kleiner Schritt auf die EU zu, dürften aber nicht ausreichen, da sie nur für neue Abkommen gelten sollen und die Überwachung ganz einer schweizerischen Behörde überlassen.

 

Was wird aus der europäischen Integration?

Bevor ich nun zu den Perspektiven der schweizerischen Europapolitik komme, werfe ich einen kurzen Blick auf die Entwicklungen in Europa, der EU und der Eurozone. Es ist aus Schweizer Sicht nicht ganz unerheblich, was in den nächsten Jahren da passiert, und zwar aus den verschiedensten Gründen. Ich nenne nur drei:

  • Die EU ist nach wie vor und bei weitem unser wichtigster Partner für Handel, Direktinvestitionen und Personenmigration. Der Anteil an den schweizerischen Exporten ist zwar gesunken (1992 66%, heute 58%, immer EU 27), doch es gibt natürlich viele Branchen und Betriebe, für die Europa nach wie vor im Zentrum steht.
  • Bei einer weiteren Abschwächung des Euro liesse sich möglicherweise die 1.20 nicht mehr halten.
  • Eine politische weitere Destabilisierung – denken wir etwa an den Balkan, aber auch an die Mittelmeer-Mitgliedstaaten – könnte den Immigrationsdruck auf die Schweiz erheblich vergrössern.

Wir haben jedenfalls keinen Anlasse zu Schadenfreude, wenn es in Resteuropa nicht gut läuft. Doch Vorhersagen darüber, wie es nun weitergeht, sind wirklich Kaffeesatzlesereien. Selbst die Ökonomen, die ja sonst sehr selbstsicher auftreten, sind leiser geworden. Dass sie sich widersprechen, ist zwar nichts Neues, aber gegenwärtig kann man jede nur denkbare Ansicht hören – ob Draghi nun Recht hat oder nicht mit seinem unbegrenzten Kauf von Staatsanleihen, ob Griechenland aus dem Euro ausscheiden wird oder nicht, ob der Euro überleben wird oder wir bald wieder viele Währungen im Portemonnaie mittragen müssen. Es ist wie beim Wetter: Wenn der eine sagt, am übernächsten Sonntag wird es stark regnen, und der andere, nein, es wird herrlichen Sonnenschein geben, dann wird zwar in vierzehn Tagen einer von ihnen Recht gehabt haben. Das Dumme ist nur, dass wir jetzt nicht wissen, welcher.

Jede Krise ist anders, und Prognosen sind bekanntlich heikel, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen. Bei der Eurokrise aber ist es ganz besonders schwierig. Es gibt kaum Vorgängerkrisen, in denen die Verschuldung eine derart zentrale Rolle gespielt hat. In der Subprimekrise hatten sich vor allem die Privaten verschuldet, was dann zur Bankenkrise geführt hat. Da haben die Staaten dann einigermaßen erfolgreich eingegriffen. Nun aber sind viele Staaten selbst hoffnungslos verschuldet. Und jetzt wird vor allem das Medikament empfohlen, welches diese Krise mit verursacht hat: Noch mehr und billigeres Geld. Selbst der Optimist kann da kalte Füsse kriegen!

Dazu kommt noch was anderes: Wir wissen einiges über Krisen und wie Staaten damit umgehen. Hier aber haben wir es nicht mit einem Staat zu tun, sondern mit einem höchst fragilen Staatenbund mit beschränkter Handlungsfähigkeit und noch beschränkterer Legitimation. Dieser Staatenbund eigener Art hat sich vor zehn Jahren eine eigene Währung gegeben – aus politischen Gründen viel zu früh. Noch keine Währung hat überlebt, wenn sie nicht zu einem voll ausgebildeten Staat gehört hatte. Ein Vergleich ist immerhin interessant, in diesem Fall ein historischer: 1861 wurde im Zuge der italienischen Einigung die Lira eingeführt – eine Einheitswährung in einem Staat, der erst eben aus vielen vorbestehenden und unterschiedlichen politischen Gebilden zusammengeschustert worden war. Von da an ging es mit dem Mezzogiorno wirtschaftlich abwärts, er musste vom Norden gestützt werden. Die ständigen Geldströme haben die Maffia erst möglich gemacht: Überall, wo unverdientes Geld fliesst, wird der grösste Teil davon in dunkle Kanäle abgezweigt. Sizilien hat sich seit 150 Jahren nicht mehr erholt.

Das muss nun in Europa nicht genau gleich kommen, aber es kann. Verarmung, Auswanderung der fähigen Jugend, Geldstrom aus dem Norden, Maffia. Das würde dann wohl bedeuten, dass sich Europa endgültig und rasch von der Weltgeschichte verabschieden müsse. Dagegen kämpfen die Europäer zurzeit an. Aber ist es nicht ein Kampf gegen Windmühlen, auf der Rosinante Mutter Merkel! Sie sehen, ich glaube nicht so recht an die Rettungsszenarien, die gegenwärtig im Schwange sind. Aber ich bin auch gewitzt und alt genug um zu wissen, dass ich mich täuschen kann. Durchwursteln ist immer eine Option, und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Und falls es ganz „strub“ kommt: Dann gäbe es immer noch die Variante, dass einige willige und fähige Staaten die EU verlassen und einen europäischen Bundesstaat gründeten. Man muss ihn ja dann den unwilligen nicht manu militari aufzwingen wie dazumal die Eidgenossenschaft den Sonderbundskantonen!

 

Optionen für die Schweiz

Nun aber genug der ungebremsten Spekulation. Unterhalten wir uns zum Schluss über die europapolitischen Optionen der Schweiz. Ich werde kurz auf die gegenwärtig diskutierten Varianten eingehen, und ich beginne mit der unwahrscheinlichsten.

Und das wäre der Beitritt. Da brauchen wir nicht viel Zeit zu verlieren, er eignet sich kaum mehr als Schreckgespenst. Es gilt zwar auch hier: „never say never“, doch mindestens für meine Generation ist die Sache gelaufen. Dass die SP den sofortigen Beitritt in ihr Parteiprogramm schreibt, bestätigt nur noch meine Einschätzung.

Eine interessante Variante wäre der Rückbau des Bilateralismus auf das, was wir wirklich brauchen. Ich hatte Ihnen oben erläutert, dass der Bilateralismus nach dem Prinzip Landwirtschaft der 60er Jahre funktioniert hat: „mehr bringt mehr“, und dass es weder eine Gesamtkonzept noch eine Kosten-Nutzenabwägung im Einzelfall gegeben hat. Doch ist diese Option eher unwahrscheinlich. Nach dem Essen ist nun mal nicht vor dem Essen. Die Wirtschaft hätte zwar ihren Weg auch bei nur teilweisem Marktzugang zur EU gefunden, doch nun hat sie sich eben auf diese Variante eingestellt und entsprechende Investitionen getätigt. Die muss man erst mal amortisieren. Von economiesuisse jedenfalls hört man nicht, man wolle auf einzelne Abkommen verzichten. Im Gegenteil, man möchte durchaus noch einiges mehr.

Der zweite Grund für die geringe Wahrscheinlichkeit eines Rückbaus ist, dass das „was wir wirklich brauchen“ ja nicht einfach festzustellen ist. Jeder will etwas anderes. Ein Rückbau setzte jedoch eine klare konzeptionelle Politik voraus, ein Wissen darum, wohin es mit der Schweizer Wirtschaft gehen soll. Und dazu ist unser politisches System nicht in der Lage. Und das ist wohl auch besser so! Und drittens: Wenn wir von Anfang an nur einige wesentliche Abkommen angestrebt hätten – etwa Freihandel, Zollerleichterung, technische Hindernisse, Land- und Luftverkehr, Lugano-Übereinkommen – hätte wohl die EU an uns nicht die institutionellen Anforderungen gestellt, die uns jetzt wie eine Kröte im Hals stecken. Doch ob sie einem geordneten Rückzug zustimmen würde und ob sie dabei auf einen supranationalen Rahmen verzichten würde, darauf möchte ich nicht wetten.

Nächste Option: Wiederaufleben des EWR oder eines EWR 2.0. Dies wäre grundsätzlich einfach, viel einfacher als 1992, denn 80 Prozent der EWR-Rechtsmasse haben wir schon übernommen. Widerstand aus Brüssel, Oslo, Reykjavik und Vaduz wäre nicht zu erwarten. Ein solcher Beitritt wäre innerhalb eines Jahres zu bewerkstelligen. Nun werden Sie wohl schon gehört haben, Freiburghaus sein für den EWR. Das ist nicht ganz richtig: Ich sage: Wenn die Schweiz eine institutionelle Lösung will, die den Anforderungen der EU genügt, dann ist nicht einzusehen, warum dann nicht den EWR. Dass Volk und Kantone damals dagegen waren, ist kein Argument. Bei der UNO geschah in nur 16 Jahren ein weit grösserer Wandel.

Insoweit hätte also der EWR einiges für sich und ist deswegen nicht ganz unwahrscheinlich. Das erklärt ja auch, warum einige Presseorgane, die keine weitere Annäherung wollen, schon bei der Erwähnung des Kürzels aufschreien wie von der Tarantel gebissen: „Wehret den Anfängen“. Nun, dass sich der Bundesrat auf diesen Weg begibt, ohne mindestens die Unterstützung der FDP und der CVP zu haben, ist praktisch auszuschliessen. Eine solche Unterstützung aber ist nur dann denkbar, wenn der bisherige Weg wirklich ins Abseits führt.

Also weiter so, Bilateralismus wie gehabt. Dafür spricht vieles, nicht zuletzt, dass es ein Mittelweg ist – das mögen die Schweizer –, und dass es ein Sonderweg ist – das lieben die Schweizerinnen. Nun, gerade aus Ihren Kreisen – der SVP – wird ja einiges in Frage gestellt, etwa Schengen oder die Personenfreizügigkeit. Die nächste Gelegenheit für ein Nein ist der Beitritt Kroatiens im nächsten Jahr. Jedes Abkommen ist kündbar, allerdings habe ich Ihnen gezeigt, dass die EU diese Abkommen als Gesamtsystem betrachtet, welches die Interessen beider Seiten ausgleichen muss. Ganz abgesehen von der Guillotineklausel beim ersten Paket dürfte es also schwierig sein, einzelne Abkommen, die der Schweiz nicht passen, herauszubrechen. Man kann immer neu verhandeln, aber in diesem Fall muss man schon recht risikofreudig sein!

Viel näher liegend ist nun aber, dass die EU mit dem Bilateralismus nicht mehr einverstanden ist. Das wissen wir nun seit vier Jahren. Wir wissen auch was sie will: Einen institutionellen Rahmenvertrag, der mindestens alle Marktzugangsabkommen umfasst. Und was sie inhaltlich dabei fordert, gleicht aufs Haar den Lösungen, die im EWR seit 16 Jahren in Kraft sind und ganz gut funktionieren. Die Vorschläge, welche der Bundesrat nun der EU unterbreitet hat, widersprechen in mindestens zwei Punkten diametral den Vorstellungen der EU: Nur für neue Verträge und nur eine rein nationale Überwachung. Das wir man nicht akzeptieren.

Ja und dann? Dann ist wohl der weitere Verlauf davon abhängig, welche Druckmittel die EU gegen die Schweiz einsetzt. Die bisherigen verbalen anlässlich von Besuchen unserer Magistraten in Brüssel werden da nicht viel ausrichten. Das inzwischen stärkste Druckmittel ist, dass die EU keine neuen Verträge über Markzugang mehr abschließen will. Die Frage ist nun halt, wie wichtig ein Strom- und ein Chemieabkommen für die Schweiz sind. Da hört man verschiedenes. Und weitere Druckmittel (ich spreche jetzt nicht von den Steuersachen)? Eher unwahrscheinlich, und zwar aus vier Gründen:

  • Die EU müsste sich darüber einigen
  • Die Schweiz ist ein wichtiger Wirtschaftspartner
  • Die meisten Abkommen bestehen im gegenseitigen Interesse, bei Kündigung könnte sich also die EU ins eigene Fleisch schneiden
  • Die Schweiz ist insgesamt, verglichen mit manchen Mitgliedländern, ein eher unproblematischer Partner.

Was ist also das wahrscheinlichste Szenarium? Weiter durchwursteln! Es tut mir Leid, ihnen keine interessanteren Nachrichten bringen zu können!